Hans Joachim Teschner

 

 

 

 

Märchen,

Mythen,

Düvelskram

 

Tafel 9

Der Dienstagsfrevel und seine Folgen

Die Vareler Junker vergingen sich einmal an ihrem Herrgott, indem sie den Dienstag abschafften. Dienstags war immer große Langeweile angesagt: Der Barbier hatte geschlos­sen, die Jungfrauen blieben wegen des Waschtages von den Straßen fern, und im Szene-Krug 'Schwarzes Roß' war tote Hose. Schon der Name Dienstag roch unangenehm nach dienen und gehorchen, und das schmeckte den hohen Herren gar nicht. Also ließen sie den Türmer der Schlosskirche die Botschaft ausrufen, dass der Dienstag ersatzlos gestrichen sei.

Davon hörte nicht nur der Teufel, der geschäftlich in Cloppenburg tätig war, nein, auch Hexen, böse Geister, Untote und verfemte Ketzer vernahmen von dem Frevel. "Hört, hört", frohlockten sie, "in Varel lässt sich gut leben, denn die Dussel haben tatsächlich den Plan Gottes diffamiert. Ein unheilig Nährboden scheint dort zu brodeln, ganz nach Art unserer Sippe." Und sie eilten herbei, um es sich in der Drostei Varel wohl sein zu lassen.

Binnen kurzem wimmelte es in den Gassen vor garstigen Gestalten, die Veitstänze auf­führten, Zauberflüche ausstießen und die armen Leute quälten, wo sie nur konnten. Haufen­weise schepperten Steinkrüge und Teller von den Borten, Gabeln verbogen sich, die Turm­uhr schlug um Mitternacht zwölfeinhalb Schläge, und Meta Kromminga aus der Düstern­straße gebar einen einzelnen Zwilling, den sie an geraden Tagen "Jan I" nannte und an ungeraden Tagen "Sophie mit dem Schniedel". Den Kopf des Leinewebers Gerold Mencke steckten die ungebetenen Gäste unter seine rechte Achsel. Fischer Theile Tapken wachte eines Nachts auf, weil er unter sich eine Bewegung spürte. Zuerst dachte er, es sei nur eine Ratte, aber dann gewahrte er drei lebendige Aale in dem Stroh. Als er aufsprang, musste er feststellen, dass die Aale an seinem Steiß festgewachsen waren. Dem Barbier Theodor Waigel wiederum wuchsen die Augenbrauen zu gewaltigen Büscheln an, die seine Augen überwucherten. Beim Essen bekam er mehr als mehrmals seine Brauen zwischen die Zähne. Schlimm erwischte es auch den Poeten Georg Fuseler. Egal, wie gewissenhaft er seine Schreibfeder anspitzte, die Tinte sudelte auf dem Papier und brandete zu Klecksen und Flecken aus, so dass er keinen Reim, ja nicht einmal einzelne Buchstaben festhalten konnte.

Hexenwerk und Düvelskram, wohin das Auge blickte!

 

Die Junker freilich lachten sich eins. Sie waren von den üblen Späßen nicht betroffen, schließlich hatten sie selbst für die unordentlichen Verhältnisse gesorgt. Feixend ritten sie durch die Gassen und hieben mit Gerten auf die entstellten Bürger ein.

In dieser schlimmen Zeit begab es sich, dass ein Steinbrecher für ein paar Tage in Varel abstieg, um seinem Handwerk nachzugehen. Steinbrecher - auch Bruchschneider genannt - waren keine Steinmetze, wie man vielleicht vermutet, sondern umherziehende Heilkundige, die Nieren-, Blasen- und Gallensteine entfernten, Star-Operationen am Auge ausführten und Schädelöffnungen vornahmen, um die Migräne durch Entnahme von grauen Zellen auszuhungern. Als chirurgische Instrumente führten sie Fuchsschwänze, Torfspaten und Drillbohrer mit sich, und so nimmt es nicht wunder, dass die anempfohlene Nachbehandlung in einer Reha-Klinik zumeist in der Sargtischlerei endete.

Dieser Steinbrecher nun war ein Meister seines Fachs. Mit einem Fleischerhaken zog er den Kopf des Leinewebers Mencke aus der Achsel und schraubte ihn wieder dahin, wo er hingehörte, nämlich auf den Hals. Zwar stülpte er versehentlich die Speiseröhre auf die Luftröhre, so dass Mencke erstickte, dies aber in einem optisch einwandfreien Zustand. Die drei Aale am Steiß des Fischers Tapken wurden mit dem Fuchsschwanz abgetrennt, worauf Tapken vollkom­men geheilt verblutete. Einen Riesenerfolg verbuchte der Steinbrecher mit seinen Ratschlä­gen: Dem Barbier Waigel riet er, die Augenbrauen nach hinten zu kämmen. Tatsächlich brauchte Waigel fortan nicht mehr auf den Brauen herumzukauen. Außerdem trug er jetzt eine feine Mütze aus Naturhaar. Auch dem Poeten Fuseler wurde Erlösung zuteil: Auf den Rat des Steinbrechers stieß er die Schreibfeder in seine Halsschlagader, um mit seinem eigenen Blut zu schreiben. Die Sache funktionierte bestens. Fuseler, trunken vor Glück, starb eine Woche danach an Blutvergiftung, ein Missgeschick, das er mit geschwungenen Schriftzügen zu Papier brachte.

Die bösen Geister beobachteten die Erfolge des Heilers mit zunehmendem Missvergnü­gen. Eine alte Hexe, deren rechte Gesichtshälfte mit einer kürbisgroßen Warze vollkommen abgedeckt war, wurde beauftragt, ihm das Handwerk zu legen. Denn die Warze hatte bisher jedem Zauberspruch widerstanden! An ihr würde der Steinbrecher versagen, und er würde mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt werden. Jedoch, es kam anders. Der Heiler zog sein Handbeil und trennte mit einem scharfen Hieb die Warze von der Backe. Wie die Hexe vor Erleichterung aufheulte! Dass ihr das halbe Gesicht fehlte - denn nichts anderes war die Warze - wurde ihr erst auf dem unverzüglich bezogenen Totenbett mitgeteilt.

 

Da gab sich sogar der Teufel geschlagen, ja, er selbst suchte den Heiler auf, um von einem Blasenstein befreit zu werden. Ihm folgten die Ketzer, die Untoten und die anderen Hexen, und auch die Junker reihten sich vor der Praxis am Neumarkt ein. Heißa, wie der Steinbrecher sägte, säbelte, schnitt und hieb, und er sackte für jedes ausgehobene Hühner­auge, für jeden Gallenstein oder Ohrenpfropf einen Taler ein. Bald war sein Geldstrumpf schwer wie eine Kiepe voll von nassem Torf. Die herausoperierten Steine und Warzen warf er in den Matsch, und von dem Getrampel der Leute wurden sie zu einer trittfesten Decke festgestampft. Zum ersten Mal konnte man den Neumarkt trockenen Fußes überqueren! Das Kopfsteinpflaster war erfunden.

Nach der alten Sage verschwand der Steinbrecher so schnell, wie er gekommen war. Wie man sich denken kann, hatte der Sargtischler noch ein paar Wochen Hochkonjunktur. Der einzige überlebende Junker soll den Dienstag reumütig wieder eingesetzt haben, und es dauerte noch lange Jahre, bis das Haus Varel wieder zu vollem Glanz erblühte. Wer aber die Reste des Kopfsteinpflasters besichtigen will, geht vom Neumarkt ein paar Schritte in die Stadt. Dort, in der Neumühlenstraße, findet er noch eine kleine Ansammlung vor. Dass es sich um die nachgelassenen Blasen- und Nierensteine unserer Vorfahren handelt, darüber besteht für die Ur-Vareler nicht der geringste Zweifel.

 

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