Hans Joachim Teschner

 

 

 

 

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Tafel 7

Egidius mit dem Hering

Zu Lebzeiten des Grafen Anton Günther wurde im alten Amt Varel schon fleißig von der Kanzel gepredigt. Der christliche Glaube hatte sich auch weitgehend durchgesetzt. Wenn gräfliche Hoheiten in ihren Kutschen vorbeirumpelten, schlugen sich die Leute gottesfürchtig in die Büsche, bekreuzigten sich, so, wie sie es vom Pfarrer gelernt hatten, und stießen dazu einen Fluch aus, so, wie sie es von alters her gewohnt waren. Die Sache mit dem rechten Glauben war also noch nicht ganz ausgereift und bedurfte einiger Reparaturen. Erschwerend kam hinzu, dass sich im Vareler Wald ein paar unbelehrbare Hexen und Zauberer immer noch dem Satanskult hingaben. Sie hexten und zauberten, was das Zeug hielt. Mal marschierte ein Förster durchs Gebüsch, der seinen Kopf unterm Arm hielt, mal flitzte eine Schar weißer Ratten durch die Beine der Passanten und löste sich in Seifenblasen auf, die ausgerechnet vor den Augen des Pfarrers mit einem hohlen Gelächter zerplatzten. Mit dem Bibelwort konnten diese Ereignisse nicht erklärt werden, und nicht wenige Vareler huldigten vorsichtshalber neben dem wahren Glauben noch allen möglichen anderen Kulten.

Schließlich schickte der Bischof von Bremen seinen frommsten Mönch nach Varel, um die fälligen Reparaturarbeiten in der friesischen Diaspora vorzunehmen. Egidius, der Mönch, nahm sich mit Feuereifer seiner Aufgabe an und fastete erstmal vierzig Tage, um sein Innerstes von allem Unrat zu reinigen. Nachdem er sich so sehr gereinigt hatte, dass seine entfleischten Knochen bei jedem Schritt wie eine Gebetsrassel klapperten, verfiel er dem Wahnsinn. Jedenfalls würden aufgeklärte Geister seinen Zustand heutzutage so beschreiben. Von Erscheinungen berichtete Egidius, von Erleuchtungen und Verwandlungen. Der HERR sei vor seinen Augen aus einer Wolke gestiegen - und zwar mittels einer Trittleiter - und habe ihn am Ohr gezogen. Tirilierende Engel hätte riesige Lettern an den Horizont genagelt, und die Lettern hätten sich zu einer Botschaft geformt, und die Botschaft bestand in einem seltsamen Wort: HOLLYWOOD. Auch der Satan habe sich gezeigt, im Stadtpark, und er habe einen grauen Mantel getragen, den er Trenchcoat geheißen hätte, und der Satan habe den Trenchcoat vorne geöffnet, und der Anblick, der sich dem Egidius geboten hätte, habe bewirkt, dass dem Egidius eine heiße Wallung zugefallen wäre.

Den Bischof beeindruckten die Berichte außerordentlich. Er bestellte den Mönch zu sich und sprach: "Wenn du so fortfährst, mein lieber Egidius, wirst du gewiss im nächsten Jahrtausend heilig gesprochen. Was aber ist mit deiner dir zugewiesenen Aufgabe? Sagt dir der Name Varel noch etwas?"

 

Egidius fiel auf die Knie und beteuerte, der Name Varel sei als Feuerball aus einer Erdspalte hervorgeschossen und habe ein Loch in seine Kapuze gebrannt. "Heiliger Bimbam!" entfuhr es dem Bischof, "wenn du nicht auf der Stelle nach Varel galoppierst, pfeffer ich einen Feuerball namens Delmenhorst in deine Kutte und zusätzlich eine glühende Kugel, die auf den Namen Braunschweig hört."

Entsetzt sprang Egidius auf, sammelte seine Knochen zusammen, rannte los, umrundete Oldenburg und fand sich unversehens im Vareler Wald wieder. Damals führte kein anderer Weg nach Varel. Hier auch ereilte den durchgeistigten Mönch seine alte Passion der Erscheinungen: Ein überirdisches Wesen war aus dem Gebüsch gestiegen. Das Wesen hatte eine Försterjoppe an und seinen eigenen Kopf unter den Arm geklemmt! "Heh Fremder", sprach der Kopf, "könntest du mir vielleicht eine Bohnensuppe in die Speiseröhre füllen? Denn stets, wenn ich etwas hinunterschlucke, fällt es auf den Boden oder in meine Jackentasche. Es ist schon ein Kreuz mit dieser blöden Anordnung der Körperteile."

Egidius jedoch vernahm nur das eine Wort: Kreuz! Natürlich, das war die Lösung: Er musste sich ein Kreuz aus Eichenstämmen zimmern und in die Stadt schleppen als leibhaftiges Mahnmal für Bußfertigkeit und Heiligkeit. Sein Leidensmarsch würde die Vareler endgültig auf den rechten Weg bringen! Gesagt, getan. Indes, er hatte die Rechnung ohne die Hexen und Zauberer gemacht, die ihn schon erwarteten. Am Waldesrand verzauberten sie sein Eichenkreuz in einen mickrigen Pökelhering, dem sie aber das Gewicht einer Kiepe voller Ziegelsteine mitgaben.

Als die Vareler den unter seiner Last keuchenden Mönch erblickten, brachen sie in Gelächter aus. "Seht nur!" riefen sie, "die Frömmelei hat den heiligen Mann all seiner Kräfte beraubt. Selbst sein dürrer Freitagsfisch wirft ihn zu Boden. Der wahre Glaube scheint noch arg verbessungsbedürftig zu sein." Und sie bekreuzigten sich und schickten einen Fluch hinterher, genau in dieser Reihenfolge.

Egidius erschrak. Dieses heidnische Volk war verdorbener, als er es je zu träumen gewagt hätte. Nicht einmal vor dem Symbol des Kreuzes zeigten sie Achtung, ja, sie verglichen es sogar mit einem Hering! Gedemütigt bog er in die Lohstraße ab, wankte durch Gassen und Wege, und überall begleitete ihn das Johlen der Gaffer, die hinter ihm her sprangen, Grimassen schnitten und ihm nachäfften, indem sie sich Hühnerfedern, Grasbüschel oder einen Schweineschwanz aufluden und so taten, als ob sie unter der Last schier zusammenbrechen müssten.

 

Vor der Schlosskirche aber wartete schon der Pfarrer, der eine solch finstere Miene aufgesetzt hatte, dass das Krakeel der Prozession jäh erstarb. "Nun reich mir doch mal deine Last", sprach er zum Mönch, "damit ich sehe, ob du bereits unter den Heiligen weilst oder nur närrisch geworden bist." Egidius, der die Worte nicht verstand, warf das angebliche Kreuz ab. Der Hering plumpste vor seinen Füßen in den Matsch. "Ein Wunder", japste der Mönch, "der Herr hat das Kreuz in einen Fisch verwandelt, eigenhändig ausgenommen und sogar gesalzen. Kommt her, ihre Armen und Bedürftigen der Stadt, und labt euch daran."

Mit den Armen und Bedürftigen aber konnte nur eine Person gemeint sein: der Heimatdichter Georg Fuseler. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch kein einziges Gedicht verkauft. Im Gegenteil, für seinen Sittenroman "Die geile Gräfin mit den infernalischen Schenkeln" wurde er sogar in den Kerker geworfen. Erst kürzlich war er entlassen worden, aber nur, weil er seinen Blechnapf vor Hunger aufgefressen hatte und Anstalten machte, sich selbst zu verspeisen. Ein großer Zeh war seinem knurrenden Magen schon zum Opfer gefallen.

Fuseler also fühlte sich nicht zu Unrecht angesprochen. Ohne lange zu zaudern stürzte er sich auf den Hering und versuchte ihn aufzuheben. Doch das teuflische Gewicht des Zauberfisches drückte den Ausgemergelten zu Boden. Die Leute lachten. Fuseler, halb irre vor Hunger, wälzte sich in den Matsch, riss seinen Mund auf und schob und würgte den Fisch in seinen Rachen. In diesem Moment erlosch der Zauber, und der Hering verwandelte sich wieder in das Eichenkreuz.

Wer nun glaubt, der arme Tropf wäre an dem klobigen Balken erstickt, hat dessen Appetit unterschätzt. Munter knabberte und nagte der Dichter an dem ungefügen Holz und schlang es geräuschvoll schmatzend hinunter – bis auf einen letzten Span. "Ist der Nachtisch auch recht klein", dichtete er, "soll er mir zum Wohle sein." Der Span verschwand zwischen seinen Zähnen und blieb wie eine quer liegende Fischgräte in seinem Hals stecken. Fuseler erstickte.

Da hatten die Vareler endgültig genug von Frömmelei und Zauberei. Ein Aufgebot von mutigen Männern schwärmte in den  Wald, um die Hexen zu fangen. Doch diese hatten sich längst in Raben verwandelt, die von den Baumkronen herab Schmähworte und Kot auf die Jäger schleuderten. Machtlos trat das Aufgebot den Rückzug an.

 

Wir kennen aus der Menschheitsgeschichte genügend Beispiele, wie in solchen Fällen vorzugehen ist: Ein Sündenbock musste gesucht werden, an dem sich das Seelengift des Pöbels austoben konnte. So auch in Varel. Dem Mönch Egidius wurde Hexerei und Teufelspakt angelastet, und er wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihm folgte der verblichene Heimatdichter Fuseler in die Flammen, allerdings nur, weil für ein Armengrab kein Geld da war.

Um die Hexen und die Bremer Missionare aber an einem Eindringen in die Stadt zu hindern, wurden am Waldesrand zwei mächtige Pfeiler aufgemauert, die gekalkt und mit Knoblauch eingerieben wurden. Ein Tor wurde eingehängt, und Tag und Nacht patroullierten Wachsoldaten, um jedem Neuankömmling kräftig auf die Finger zu klopfen. Später vergaß man den Zweck der Wachen. Noch später wurde dort ein Wegezoll erhoben. Später als noch später wurde der Wegezoll als unzeitgemäß abgeschafft und die Wachen wieder abgezogen.

Das weiße Tor steht noch heute da. Auf den steinernen Pfeilern ruhen zwei umkränzte Gefäße. Kaum ein Ur-Vareler kennt aber deren Inhalt: In dem linken Gefäß ruht die Asche des Mönchs Egidius, in der rechten Urne das, was von dem hungrigen Heimatdichter übriggeblieben ist.

 

 

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