Hans Joachim Teschner

 

 

 

Märchen,

Mythen,

Düvelskram

 

Tafel 2

Magnus, der Wahrsager

Als Varel sich noch in gräflicher Hand befand, sorgte einmal ein zugereister Wahrsager für großes Aufsehen. Vor allem den Damen der höheren Gesellschaft rieselten wohlige Schauer über den Rücken, wenn sie an den wildlockigen Fremden mit den schwarzen Augen dachten. Nachmittags, bei Hirsebrei und Knabbermöhren, steckten sie ihre Köpfe zusammen, um über die geheimnisvollen Vorgänge in seinem Gemach zu spekulieren, und dabei wurde vornehm mit dem kleinen Finger in der Nase gebohrt, eine hochaktuelle Mode, die gerade aus Ostfriesland herüberschwappte.

Magnus Margeaux, der Wahrsager, aber hatte eine besonders glückliche Hand, wenn er die voraussichtliche Niederkunft der Damen aus den Sternen las. Dies war auch der Grund, warum Gräfin Friederike ihn konsultierte. "Wann endlich kann ich mit einem Sproß rechnen?" hauchte sie hochwohlgeboren und ließ sich auf seinem Divan nieder. Das nun folgende spiritistische Ritual entlockte ihrem Mund manch spitzen Schrei und endete mit der Prophezeiung des Hellsehers: "Neun Monate müsst ihr euch gedulden, dann werdet ihr ein wildlockiges Kind mit schwarzen Augen gebären."

Und verdammt nochmal, die Vorhersage traf ein!

Friedrikes Ehemann, Graf Edzard der Scharfsinnige, Edler Herr zu Varel, war begeistert. Lange, schon zu lange war sein Wunsch nach einem Thronfolger unerfüllt geblieben. "Quel malheur!" pries er auf französisch das freudige Ereignis, und zum Dank ernannte er Magnus Margeaux zu seinem Berater. Kaum im Amt musste Magnus dem Grafen die Zukunft deuten. "Verrate mir", befahl der edle Herr, "wie alt werde ich in fünf Jahren sein?" Magnus überlegte eine Weile, kratzte in eine Schiefertafel die Zauberformel x + 5 = y und tunkte die Tafel in seinen Nachttopf. Seine Miene verhieß nichts Gutes. "Ist es so schlimm um mich bestellt?" rief der Graf erbleichend, "heraus mit der Sprache, ich will die ganze Wahrheit wissen."

"Nun", sprach Magnus leise, "du wirst in fünf Jahren genau 39 Lenze zählen, das ist so sicher wie die Ameisen in der Schlosskirche."

"Erbarmen!" kreischte der Graf, "so betagt? Aber ich bin doch erst 34 Jahre alt!"

Insgeheim aber hoffte er auf ein günstigeres Ergebnis, und deshalb wartete er erstmal die fünf Jahre ab. Während dieser Zeitspanne prophezeite der Hellseher noch siebenunddreißig Niederkünfte bei den besseren Damen, ohne ein einziges Mal zu irren.

 

Als die fünf Probejahre abgelaufen waren, verfiel Graf Edzard dem Trübsinn. "Das Ende naht", jammerte er, "noch ein weiteres Jahr, und ich gehe auf die Achtzig zu oder vielleicht sogar auf die Sechzig. Wer hat mir eigentlich diesen Mist eingebrockt?" Argwöhnisch beobachtete er das Treiben seines Beraters, dem schon längst der Ruf eines Magiers vorauseilte. Jedesmal, wenn dieser in der Drostenstraße lustwandelte, folgte ihm ein Pulk kreischender Jungfrauen, die zu weinen beliebten, wenn er ihnen einen Blick zuwarf. Viele begaben sich effektvoll in eine Ohnmacht, andere hingen an seinen Rockschößen und winselten um einen Zipfel seines Schneuztuches. Es kam vor, dass wohlbehütete Töchter der Stadt ihre Schürze lüfteten, um den Anblick ihres Unterkleides freizulegen, ja, die als züchtig beleumundete Meta Schifferdecker aus der Osterstraße 6a zog sich gar eine Wollsocke aus und warf diese dem Magier ins Gesicht, damit er daran schnuppere.

Befremdlich war auch der ungebremste Kindersegen in der Stadt. Seit der Hellseherei wuchs die Zahl der Bälger, eins so gebaut wie das andere, mit schwarzen Augen und wilden Haarlocken, und bald konnte sie niemand mehr voneinander unterscheiden.

Da hob ein Grummeln in den Hütten an, ein gefährliches Grollen, und der Unmut richtete sich gegen den Grafen und dessen Berater. "Hier breitet sich ein Sündenpfuhl aus!" donnerte Prediger Heino Janssen von der Kanzel und zeigte dem Grafen den Stinkefinger, "wenn der schwarzen Magie nicht Einhalt geboten wird, versinkt Varel in Sodom und Gonorrhö, und die Geißel Aids wird unseren Grünkohl vernichten, denn das Kondom ist noch nicht erfunden." Das war starker Tobak. Wenn es um ihren Grünkohl ging, vergaßen die Männer jeden Respekt. Hinter den Türen rumorte es, die Revolution wurde geschmiedet!

Angesichts der bedrohlichen Lage rief der Graf den Magier um Hilfe. Dieser wusste wie immer Rat. "Scharfsinniger Edzard", sprach er, "wir müssen einen Krieg anzetteln, das lenkt die Leute ab. Der Präsident von Amerika macht das auch immer so."

"Hmm", überlegte Edzard, "aber wir haben gar keinen Präsidenten."

"Wir leben ja auch nicht in Honolulu", belehrte ihn Magnus, "also höre: wir schleudern ein paar Gesteinsbrocken auf die oldenburgischen Ritter, die vor den Toren der Stadt auf unsere Jungfrauen lauern. Hah, wie sie aufheulen werden! Mit gezogenen Schwertern werden sie über uns herfallen. Den Vareler möchte ich sehen, der da noch an Revolution denkt!"

 

Gesagt, getan. Zwei riesige Steinschleudern wurden nach den Skizzen des Magiers gebaut, versehen mit Ketten, Flaschenzügen, Winden und baumstarken Hebelarmen. Als Wurfgeschosse wurden zwei Steinquader aus der Schlosskirche herausgebrochen und mit den Hebelarmen hochgehievt. Das Spektakel lenkte die Vareler alsbald von ihren rebellischen Gedanken ab. Alles lief herbei, um die kühne Konstruktion zu bewundern. Schließlich, an einem Dienstag kurz nach halb sieben, war es soweit. Die Ketten wurden gespannt, und der Graf rief: "Ab fünf Minuten nach Ladenschluss wird zurückgeschossen!" Magnus hieb mit einem Hammer den ersten Bremskeil beiseite, die Ketten rasselten, der Steinquader neigte sich, fiel senkrecht herab und begrub die Gräfin Friederike unter sich. Das zweite Wurfgeschoß traf den Heimatdichter Georg Fuseler, der sein Leben mit den Worten aushauchte: "Ach, wär ich Dussel doch in Düsseldorf geblieben."

Welch Schmach, welch Schande! Die Meute der Zuschauer wurde erneut von Wut und Aufruhr ergriffen, und die mündliche Überlieferung behauptet, dass der Graf zusammen mit seinem Berater aus der Stadt gejagt wurde. Das Schloss aber fiel den Zündeleien der Mordbrenner zum Opfer.

Wer in den alten Chroniken blättert, findet kein Wort über die unrühmlichen Vorgänge. Nirgends ein Hinweis; so, als handele es sich um eine schlecht erfundene Fabel. Indes, die Ur-Vareler wissen um ein verräterisches Indiz: Am Wendehammer in der Hindenburgstraße stehen die Reste der beiden Steinschleudern und künden vom Untergang des Grafen Edzard und seines Beraters.

 

 

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