Hans Joachim Teschner

 

 

 

 

 

Märchen,

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Düvelskram

 

Tafel 5

Stürz den Becher

Als der Seeräuber Klaus Störtebeker mit seinen Vitalienbrüdern die Nordsee unsicher machte, gewährte ihnen manch friesischer Häuptling Unterkunft. In Marienhafe wurde dem Seeräuber sogar der Turm der Kirche als Burg überlassen. Dort und in weiteren Schlupf­winkeln an der Jadeküste wurde die Beute aus den gekaperten Hansekoggen untergebracht. Wenig bekannt ist, dass Störtebeker mit seinem Kumpan Gödeke Michels kurzzeitig auch in Varel einen Stützpunkt unterhielt. Viel Freude ist ihm an dieser Entscheidung allerdings nicht vergönnt gewesen, wie die folgende Geschichte beweist.

Störtebeker hatte also sein schnelles Schiff am Vareler Hafen geankert. Ungefähr an der Stelle, an der der dänische König die Christiansburg errichtete, legte er ein Depot an, wo er sein Raubgut verwahrte. Wohlwollend betrachtete er seine Gold- und Silberschätze, und noch wohlwollender fiel sein Blick auf drei Heringsfässer. Jedes Fass hatte ein Loch im Deckel, aus dem ein menschlicher Kopf lugte. Dies war die übliche Art, gefangene Kaufleute oder Schiffer zu transportieren, ehe ihnen der Kopf abgeschlagen wurde.

Gutgelaunt fasste Störtebeker den Plan, die drei Gefangenen nach Varel zu rollen, um die Einwohner an dem vergnüglichen Spektakel des Kopfabschlagens teilhaben zu lassen. Die Fässer rumpelten zum Schlossplatz, die Vitalienbrüder sangen ein Maienlied, und Gödeke Michels warf ein paar Glasperlen in die Vorgärten, um die Jungfrauen aus den Hütten zu locken. Doch schon hier kam es zum ersten Missklang: Die Jungfrauen hatten sich allesamt in den Vareler Wald begeben, wo sie oldenburgische Ritter vermuteten, die sie, wie sie hofften, entführen würden.

Auf dem Schlossplatz herrschte gähnende Leere. Es war Sonntag Nachmittag, und die Vareler hatten sich nach der Mette aufs Ohr gelegt, um die Strafpredigt des Missionars sowie die Rübensuppe zu verdauen. Nur der Schneider Wetzel war noch auf den Beinen, da ihn seine Hämorrhoiden plagten. "Heh, ihr da!" rief er mit gepresster Stimme, "ihr seid zu früh dran. Fischtag ist erst morgen auf dem Neumarktplatz." Mit finsterem Gesicht trat Gödeke Michels zu der krummen Gestalt und packte sie beim Kragen: "Fische? Siehst du hier irgendeinen Fisch, du Jammerlappen?"

Erst jetzt gewahrte Schneider Wetzel die Köpfe der Gefangenen. "So ein Scheiß auch!" rief er erbost, "dann gibt es morgen wieder Steckrübensuppe!"

 

Vor so viel Unbotmäßigkeit geriet Gödeke Michels außer sich. Er riss seinen Dolch aus der Scheide, und stieß ihn auf den Schneider hinab, um dessen Herz zu durchbohren. Keinen Wimpernschlag zu spät fiel Klaus Störtebeker ihm in den Arm. "Gemach, gemach, mein Freund. Mich deucht, wir sollten den Mut dieses Männleins auf eine etwas härtere Probe stellen." Die Vitalienbrüder ringsum johlten begeistert auf. Sie wussten, was nun folgen würde: Der Bechersturz. Klaus Störtebeker richtete sein Wort an den Schneider: "So höre, mein vorlauter Gevatter. Wenn du ebenso wie ich einen Becher Bier in einem Zuge leeren kannst, sollst du als freier Mann davonkommen. Andernfalls aber ist dein Kopf verspielt."

"Kein Problem", antwortete der Schneider, "ein Freibier kommt mir gerade zupass. Der Trunk wird meine Schmerzen am Gesäß ein wenig dämpfen."

Wieder wollte Gödeke Michels sich auf den Frechling werfen, und wieder war es Störtebeker, der ihn zurückhielt. In diesem Augenblick schwankte ein weitere Gestalt auf den Schlossplatz: der Heimatdichter Georg Fuseler. Den Künstler, der den geistigen Getränken nicht abhold war, hatte ein köstliches Wort geweckt: Freibier! Noch halb benommen rieb er sich den Nachmittagsschlaf aus den Augen und säuselte: "Wohlan, meine lieblichen Gefährten! Reicht mir den Becher zum Gruße, auf dass Feuchtigkeit, Friede, Eierkuchen und üppige Schalmeien unsere Freundschaft besiegele."

Die raue Gesellschaft brüllte vor Lachen auf. Endlich würden Köpfe rollen. Der mächtige Becher des Störtebeker wurde bis an den Rand mit Bier gefüllt, welches die Vitalienbrüder in einem Fass mitgebracht hatten. Als erster setzte der Schneider den Humpen an. In einem einzigen Zuge leerte er ihn, wischte sich den Schaum von den Lippen und rief: "Den Geschmack des Trunks will ich gelten lassen! Was aber die Quantität betrifft, so scheint sie mir ein wenig mager ausgefallen." Kaum hatten die Seeräuber sich von der Überraschung erholt, da hatte Georg Fuseler bereits die zweite Füllung in einem Zuge durch seine Kehle gestürzt und verlangte nach einer neuen Probe, da die Würze sich erst nach einer guten Grundlage ermitteln und überhaupt entwickeln würde. Mit dem nächsten Becher machte er nicht viel Federlesens, und er verlangte unverzüglich eine dritte Probe, denn dreimal sei Oldenburger Recht. Hier wiederum schritt der Schneider ein und reklamierte den nächsten Becher Bier für sich, da er gerade eine Durstphase durchmache, die seinen Hämorrhoiden durchaus nicht bekömmlich sei. Außerdem habe er just eine weiße Maus gesehen, die durch seinen Kopf getrappelt sei, und jedermann in Friesland wisse doch, dass weiße Mäuse nur mit Bier zu vertreiben seien. Georg Fuseler bestätigte diese Theorie auf der Stelle und setzte hinzu, dass er selbst soeben circa sieben bis zehn weiße Mäuse gesichtet habe, und nun sei es höchste Zeit, der Plage mit ein paar gut gefüllten Bechern ein Ende zu bereiten.

 

Inzwischen waren weitere Vareler von dem Lärm aufgewacht und herbeigeeilt, und alle wollten einen Becher Bier hinunterstürzen zum Zeichen der Gastfreundschaft mit Störte Gödebeker, den sie nur vom Hörensagen bzw. Sagenhören kannten oder eigentlich nicht kannten, na egal, Hauptsache der Tropfen versiegte nicht und deshalb erstmal Prost, Herr Räuberhauptmann! "Genau", lallte Fuseler überglücklich, "Gödeke Ösenstecher ist mir eh schnuppe, Bier her oder ich ich fall um fidibum!" Häuptling Rickel to Bomgarde drängelte sich nun auch dazwischen und bestellte bei Herrn Klaus Blödelecker gleich zwei Becher des vollmundigen Saftes, aber bitteschön sauber gezapft mit einer steifen Blume drauf, sonst würde er sehr ungehalten werden.

An dieser Stelle kam es zu einem kleinen Zwischenfall, der in dem allgemeinen Besäufnis aber von niemanden zur Kenntnis genommen wurde: Georg Fuseler fiel wie ein morscher Balken in den Dreck. Er hatte sich tot gesoffen.

Die gefangenen Handelsleute in den Fässern fingen an zu murren. "Was ist mit uns", stänkerten sie, "wir dürsten!" Schneider Wetzel kippte daraufhin einen Becher über die Köpfe der Gefangenen: "Hiermit taufe ich euch auf den Namen der Vitaminbrüder und übergebe mich mit dem Ausdruck meines höchsten Beileids." Die Übergabe seines Mageninhalts fand nur geteilten Beifall bei Störtebeker, aber ehe er oder einer seiner Kumpane das Schwert ziehen konnte, hatte ihn die Belegschaft des Torfstecherkombinats unter die Arme gefasst, und Bürger, Kaperkapitäne, Häuptlinge und Seeräuber zogen randalierend durch die Gassen. Gegen Mitternacht hatten die Vareler das Bierfass bis auf den letzten Tropfen geleert und die Vitalienbrüder samt und sonders unter den Tisch gesoffen, wie man so schön sagt.

Der neu aufziehende Tag ging in die Geschichte Varels als der 'Bleierne Montag' ein. Es folgte der 'Gedämpfte Dienstag', dem sich der 'Verhaltene Mittwoch' anschloss. Der Donnerstag wurde zum Ruhetag erklärt. Aufgrund bestimmter Geräusche, die aus den Hütten klangen, erhielt der Freitag den Namen 'Klagefreitag'. Am Samstag sandte die Sonne ein paar Strahlen in die verwaisten Straßen Varels, doch nur einer erreichte ein menschliches Wesen: Häuptling Rickel to Bomgarde, der jammernd durch den Staub kroch. Der siebte Tag der Woche war den unerbittlichen Kopfschmerzen geweiht, die den Einwohnern das Leben zur Hölle machten.

Doch alles geht einmal zu Ende. In den Stuben wurde alsbald ein süffiger Met gebrannt, und auf dem Schlossplatz verwischten sich die Spuren des großen Besäufnisses. Klaus Störte­beker, Gödeke Michels und die Vitalienbrüder aber hat man seither nie wieder in Varel gesehen.

 

Stürz den Becher! So heißt es heute wieder in der Kleinstadt, zur Erinnerung an die glorreiche Episode. Jedes Jahr zu Beginn des Kramermarktes muss der Bürgermeister nachweisen, ob er einen mächtigen Humpen Bier in einem Zuge leeren kann, oder ob ihm der Kopf abgeschlagen wird. Aber ach, zwar hat noch kein Bürgermeister die Probe bestanden, ihre Köpfe sind dennoch nicht gerollt. Früher war eben alles besser.

 

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