Hans Joachim Teschner

 

 

 

 

Märchen,

Mythen,

Düvelskram

 

Tafel 14

Ein Schall  wie von Engelsharfen

Im Vareler Wald lebte einmal eine Kolonie von Wichteln, die so klein waren, daß man sie höchstens unter einem Mikroskop hätte entdecken können. Ihre Existenz wäre somit für immer verborgen geblieben. Eines Tages aber verirrte sich eine Bakterie unter die Achselhöhle des Wichtelkönigs und nistete sich dort ein. Davon unerfreulich gereizt, verfiel der König in einen nicht endenwollenden Lachkrampf, der an die sieben Wochen anhielt. Am Montag der achten Woche steckten die Wichtel vergebens ihre Ohren in das hoheitliche Erdloch: Der König hatte sich totgelacht.

Die Kunde vom Ableben der allseits beliebten Majestät wehte mit den wechselnden Winden über das Land, und aus allen Himmelsrichtungen strömten Abgeordnete und Delegationen herbei, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Aus Butjadingen kam eine Hundertschaft Kobolde, aus dem Neuenburger Wald machten sich fünf Dutzend Trolle auf den Weg, Gnome aus Rhauderfehn hüpften leichtfüßig über die Moore, und sogar in Bremen setzte sich eine Legion von Zwergen und Erdmännchen in Bewegung. Trippelnd und wispernd schlugen sie ihre Lager im Vareler Wald auf, und obwohl die Blätter in den Bäumen still dahinwelkten, schwirrte ein unentwegtes Rascheln und Tuscheln durch das Gehölz. Beklommen lauschten die Vareler den unheimlichen Geräuschen, und die Pilzsammler blieben in diesen Tagen in ihren Hütten.

Den toten König, der in einer Bucheckerschale aufgebahrt war, rührte die Anteilnahme so sehr, daß er eine dicke Träne vergoß. "Seht nur!" rief Hero Eilers, der Häuptling der ostfriesischen Gnome, "der König gibt uns ein Zeichen."

"Wahnsinn, echt cool", staunte auch Mr. President aus Bremen, der aber gar kein Präsident war, sondern ein Barde, der mit seiner Polkaband durch die Konzerthöhlen zog und die Elfenweibchen zum Kreischen brachte, wo immer er auftrat. Mr. President trat an den Sarg, faßte die Träne zwischen Zeigefinger und Daumen und steckte sie in seine Hosentasche. "Eine geile Reliquie, ey, die schmier ich mir beim nächsten Auftritt als Styling-Gel in die Haare."

Daraufhin wollten die Butjadinger Kobolde den Barden am nächsten Grashalm auf­knüpfen. Gebieterisch trat Hero Eilers zwischen die Zankenden. "Schluß mit lustig!" rief er, und zu Mr. President gewandt: "Gib sofort die Reliquie raus, du Schmachtlocke, sonst pinkel ich in deine Quetschkommode!"

Doch die Träne hatte sich bereits in der Karottenhose aufgelöst und hinterließ nur noch einen salzumrandeten Fleck.

 

Da heulten die Wichtel vor Wut und Ohnmacht auf. "Wir können doch keine Karottenhose als Reliqie anbeten und überhaupt, was bedeutet eigentlich das Zeichen des Königs?"

Wieder war es Hero Eilers, der zur Ruhe mahnte: "Hört her! Der König hat uns mit seinem Fingerzeig auf einen bestimmten Gegenstand verwiesen, nämlich auf eine Hose. Wahrscheinlich aber steckt die Lösung des Geheimnisses nicht in der Karottenhose, sondern in der Unterhose des Königs daselbst."

Als der tote König diese Worte vernahm, durchbrauste eine grimme Wut sein erkaltendes Herz. Mit letzter Kraft holte er noch einmal seinen Lebenswind zurück, pumpte seine Lungen auf und stieß röchelnd und blutspuckend einen Fluch auf die Umstehenden: 

"Gesindel! Ehrlose Dumpfbacken! In euren Knallköppen rasselt ein solch garstiger Schrott, daß zum Angedenken an eure Blödheit alle Glocken im Land einen Sprung bekommen sollen, auf daß sie nur noch Mißtöne erzeugen! Fahrt von mir und seid verflucht zu Unruhe und Schlaflosigkeit, bis daß ihr ein verwunschenes Heim gefunden habt, wo ihr niemanden auf den Senkel geht."

Hierauf fingen alle Glocken im Lande zu läuten an, und was da an Dissonanzen und schrillen Kakophonien über die Dächer hereinbrach, ließ so manche Seele ihr letztes Gebet sprechen. Auch der Heimatdichter Georg Fuseler wurde von dem entsetzlichen Getöse geschüttelt. Frenetisch krachten die Vibrationen in seine Gehirngänge, grell zuckten Visionen vor seinem geistigen Auge, und wie von fremder Hand geleitet kritzelte seine Schreibfeder ein seltsames Vermächtnis an die Nachwelt: "Die Glocke - von Friedrich von Schi...". Weiter kam er nicht, denn sein Lebenslicht erlosch zur Unzeit.

Die Wichtel aber flüchteten aus dem Wald.  Auf der Suche nach der verwunschenen Heimstatt ergossen sie sich über das Stadtgebiet. Zwar waren sie wegen ihrer Winzigkeit für die Augen der Vareler nicht auszumachen, dafür mehrten sich die Folgen ihrer Unruhe und Schlaflosigkeit. In den Wasserpfützen plitscherte es, als habe jemand Kieselsteine hineinge­worfen, in den Vorratstöpfen schrumpfte auf unerklärliche Weise die Butter und der Honig, dem Böttcher Gerold Mammen fielen die Haare vom Kopf, als seien sie abgebissen, und Frieda Meier klagte über eine drückende unsichtbare Last in ihrem Kreuz. Die Hunde verkrochen sich hinter den Steinöfen, die Katzen rasten fauchend und mit gesträubten Haaren hinter imaginäre Wesen her, und über allem toste stündlich das Klanggewitter der geborstenen Glocken.

 

So ging es Woche für Woche. Um wenigstens für ein paar Stunden Schlaf zu finden, keilten die Einwohner die Glocken fest. Wenn Sturmwarnungen oder die Sonntagsmesse auszurufen war, lief der Glöckner durch die Straßen und schepperte mit einem Blecheimer gegen die Türen. Derweil lag der tote Wichtelkönig in seiner Buchecker und wartete auf die Nachricht, daß die Wichtel den verwunschenen Ort gefunden hatten.

Dann, an einem Sonntag vormittag, geschah das Unglaubliche. Die Gemeinde hatte sich in der Schloßkirche versammelt, um die wöchentliche Strafpredigt des Pfarrers entgegenzunehmen. "Fluch über euch, ihr unwürdigen Kreaturen! Tut Buße alle Stunden, alle Minuten, alle Sekunden sowie alle Bruchteile von Sekunden! Das Gewisper in euren Betten und Alkoven sind die Flammen des Fegefeuers, sind die Schreie der verlorenen Seelen. Verdammt seid ihr auf immerdar!" Gerade wollte der Prediger noch einen Generalfluch wegen der kurzen Röcke der Jungfrauen hinterherschicken, als plötzlich ein Bimmeln von fern erklang. Ein liebliches Läuten mit dem Schmelz feinster Gold- und Silberlegierungen, ein Schall wie von Engelsharfen. Da gab es kein Halten, die Leute liefen aus der Kirche, rannten durch die Straßen, gingen dem süßen Klang nach und fanden sich vor dem Waisenhaus wieder. Irgendwo im Dachgeschoß mußte das Glöcklein sein Lied singen!

Doch so sehr man suchte, niemand fand die Quelle der zarten Harmonie.

Seit diesem Tag erklangen die Glocken des Landes wieder mit ihrem reinen und mächtigen Nachhall. Und kein Vareler wurde mehr von Gewisper und den seltsamen Erscheinungen beunruhigt. Die Existenz der Wichtel aber wurde nie entdeckt. Viele Generationen später, im August 1998, wurde zufällig ein Glöcklein beim Waisenhaus gefunden. Die Initialen auf dem Metall lauteten: V - W - H. Aber selbst die Ur-Vareler hatten keine Erklärung dafür. Dabei ist so einfach: V - W - H steht für 'Verwunschenes-Wichtel-Heim'. Denn die Wichtel hatten unter dem Waisenhausdach eine neue Heimstatt gefunden und mit dem Glockengeläut ihrem toten König das Zeichen gegeben, daß er endlich in die ewigen Erdhöhlen einkehren könne.

 

 

  Lesesaal