Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 55

 


 

 

 

Kompendium des Wissens

 

In der Nahkampfzone

Unwissende, die sich in die Nahkampfzone begeben, halten es für notwendig, die Hände vor das Gesicht zu halten. Sie wähnen sich in dem Glauben, dass sie damit Boxhieben Paroli bieten können, die der Kontrahent ausheckt, um ihr Nasenbein zu zertrümmern.

Welch trügerische Hoffnung! Es ist im Gegenteil ratsam, ja für die eigene Gesundheitsvorsorge unabdingbar, die Hände in die Hosentaschen zu stecken und dem Gegenüber, der sich mit akkuraten Fauststößen, tänzelnder Beinarbeit und linken Haken für die bevorstehende Nasenbeinzertrümmerung aufwärmt, darauf hinzuweisen, dass es der zivilisatorischen Übereinkunft entspricht, der Gewalt abzuschwören. Argumente, so sollte man sanft aber bedeutsam reflektieren, haben noch immer den längeren Atem für sich gewinnen können.

In der Nahkampfzone aber, so sollte man den Gedankengang fortspinnen, entscheidet es sich, ob der Mensch allen Ernstes gedenkt, an Gottes Ebenbild herumzubasteln – denn Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen –, ob also der Mensch die Nase Gottes zu zertrümmern gewillt ist.

Da verschrumpelt die Faust des Nasenbeinzertrümmerers zu einem kleinen Häufchen Elend. Mit moralisch erhobenen Haupt verlasse man die Nahkampfzone und beglückwünsche sich selbst zum Sieg über die Vernunft.

 

 

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Riffmeldungen

Von der Gemeinschaftspraxis der Ärzte Dr. Brunner, Haberlein und Dr. Chang bis zur Rosenapotheke sind es 120 Meter. Viele Patienten können die Entfernung bewältigen, ohne ihren Gang unterbrechen zu müssen oder zwischendurch ins Koma zu fallen. Gut, bei der Marke 82,6 Meter haben einige der Schwächeren ihre Lebenskraft abgegeben. Die Holzkreuze dort zeugen vom Mitgefühl der Vorbeihumpelnden, die, wenn sie die Dahinsiechenden überholen, ein Gelübde ablegen. In der Apotheke angelangt legen sie nicht nur das Rezept vor, sondern bestellen auch ein Holzkreuz, das der Herr Apotheker bitteschön bei der Marke 82,6 Meter aufstellen möge. Der Apotheker führt eine schöne Auswahl an Holzkreuzen. Sie sind handgeschnitzt.

 

 

 


 

 

  Dr. Brandstetter
 










 

Die Welt grinst

 

Dr. Brandstetter hatte seine Familie aus den Augen verloren. Er suchte die Menschenmenge ab, die sich zwischen den Verkaufsständen hindurchzwängte. Interessenten feilschten hie und da mit den Verkäufern, andere genehmigten sich ein Bier und eine Bratwurst. Der Flohmarkt war jedes Mal der Renner in der Stadt. Hier konnte man praktisch jede Familie antreffen. Bis auf die meinige, dachte Dr. Brandstetter, die hat sich wieder einmal in dem Gewühl verlaufen. Er beugte sich über einen mit Wollhandschuhen und Wollsocken überladenen Tapeziertisch. Hinter dem Wollberg hockte eine korpulente Frau, die an einer offenkundig für den Winter vorgesehenen Socke strickte. „Die kratzen nicht“, sagte sie ungefragt. Vermutlich, weil die Socken aussahen, als würden sie kratzen. „Dann nehme ich halbes Pfund“, sagte Dr. Brandstetter. Es sollte ein kleiner Scherz sein. Jetzt, wo seine Familie außer Sichtweite war, konnte er schon mal über die Strenge schlagen. Er gluckste vor Vergnügen, fühlte sich befreit, erleichtert, als ob eine Last von ihm abgefallen wäre. Wie unter Drogen, dachte er. „Und außerdem“, rief er der Wollfrau zu, „könnte es ruhig auch etwas mehr sein. Schließlich werden hinterher die Fische damit eingewickelt.“ Beschwingt wandte er sich ab und tänzelte von Stand zu Stand. Je öfter er seine Bestellungen aufgab, desto stärker schien die Droge ihre Wirkung zu entfalten, desto mehr zog es ihn, lustig gemeinte kleine Dummheiten an die Anbieter von Wollsocken, rostigen Gerätschaften, zerlesenen Büchern und geblümten Porzellantassen auszuteilen. Am Ende des Nachmittags landete er in einer Klinik, er konnte sich gar nicht erklären, wie er da hingekommen war, aber da hatte sich schon ein seliges Lächeln in sein Gesicht eingegraben, ein Lächeln, an dem jede profane Frage abprallte. Dem Bereitschaftsarzt gab er den Ratschlag, immer schön im zweiten Gang zu fahren und auf keinen Fall den Ballon steigen zu lassen, sonst würde das Ventil verstopfen. Nach seiner Entlassung, auf dem Nachhauseweg, erklärte er dem Taxifahrer, die Welt grinse verschlagen, sobald man ihr den Rücken zukehre. Er habe das Phänomen für einen kurzen Moment erhascht, vorhin beim Verlassen der Klinik. Die Fratze der verschlagen grinsenden Welt habe sich verräterisch in der Glastür widergespiegelt. Niemand sonst habe es bemerkt, und nun fürchte er um seine Glaubwürdigkeit, wenn sein Konterpart, und damit meine er sein Gegenüber, den Taxifahrer, dieses sein Geständnis, das einer Offenbarung gleichkäme, in die Welt hinausposaune, wie es ja das lose Mundwerk des Personen befördernden Gewerbes so mit sich brächte, man kenne das ja. Solches verbiete er sich uneingeschränkt und verweise auf die diesbezüglichen Paragraphen.

Nach dieser erschöpfenden Ermahnung versank Dr. Brandstetter in ein dumpfes Brüten. Die Droge hatte ihre Wirkung verloren. Ein kurzer Rausch, ein kurzes Glück, dachte er, und die Welt, die grinst verschlagen, sobald man ihr den Rücken zukehrt.

 

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