Hans Joachim Teschner

 

 

Doppel-Doppel

Der Empfang

Pflegeleicht

Das Leben der Ameisen

Die gute Sitte

Die Frau in seinem Haus

Umwandlung

Die Macht der Musik

In Stahl und Stacheln

Eine Dreiecksgeschichte

Fair Play

Zwei Passanten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dr. Brandstetter

Das zweite Leben

VOL. 1

 

Doppel-Doppel

Dr. Brandstetter verließ seine Wohnung an diesem Morgen gegen halb acht und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit um 19 Uhr zurück. Vor dem Zubettgehen versuchte er sich zu erinnern, was während des Tages geschehen war, aber es wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen. Am folgenden Tag widerfuhr ihm das gleiche Missgeschick, und so ging es eine geschlagene Woche lang. An die Ereignisse der Nächte konnte er sich hingegen gut erinnern. Da versank er einen tiefen Schlaf, und manchmal träumte er von Wintertagen, die kurz wie ein kaltes Wetterleuchten aufblitzten. Als sich nach einem Monat keine Besserung einstellte, ließ sich Dr. Brandstetter von einem Privatdetektiv beschatten. Er musste herausfinden, was er eigentlich den ganzen Tag trieb.

Das hätte er lieber nicht tun sollen, denn der Privatdetektiv dokumentierte ihm an Hand von Fotos und Tonbandaufzeichnungen lückenlos, dass er, Dr. Brandstetter, während der fraglichen Stunden ein Doppelleben führte. Darin nahm er die Identität eines Dr. Brandstetter an, der sich nicht entblödete, sogar den täglichen Gedächtnisverlust des eigentlichen Dr. Brandstetter sich derart perfekt anzueignen, dass Dr. Brandstetter des abends weder von einem zweiten Dr. Brandstetter noch von einem Privatdetektiv wusste, ja, nicht einmal ahnte, dass der zweite Dr. Brandstetter seinerseits einen Privatdetektiv angeheuert hatte, welcher einen Dr. Brandstetter observierte, der mit perfekter Tarnung in die Haut eines Doppelgängers des Dr. Brandstetter Nr.1 geschlüpft war, den Dr. Brandstetter Nr.2 nachahmend, nicht ahnend, dass er selbst lediglich in der Zwillingskopie eines Dr. Brandstetter Nr.3 wandelte. Abends aber erlosch das Gedächtnis des Dr. Brandstetter mit grausamer Regelmäßigkeit, egal, ob er die Gehirnzellen des Nr.1, Nr.2, Nr.5 oder Nr. Wie-auch-immer benutzte.

Was also je über die seltsamen Erlebnisse des Dr. Brandstetter berichtet werden mag: Nie können wir sicher sein, ob sie sich so zugetragen haben oder vielmehr anders. Nämlich genauso, jedoch mit einer anderen Person im Mittelpunkt: dem doppelten Doppelgänger eines vielleicht schon doppelgängerischen Doppelgängers des Doppelgängers eines gedoppelten doppelfachen Doppeldoppel-Doppels.

  

Der Empfang

„Eine Registrierkasse“, sagte Dr. Brandstetter, „eine schöne alte Registrierkasse, das wäre was. Mit soliden Tastenhebeln aus Messing und einem noblen Glockenzeichen, wenn man den Summenhebel betätigt.“

Er wird langsam wunderlich, dachte sie und steckte sich eine Zahnbürste ins Haar. „Wozu brauchen wir eine Registrierkasse? Eine Registrierkasse ist etwas für Fischverkäufer. Die großen Geschäfte benutzen Scanner.“

Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Der Empfang des Bundespräsidenten verlangte die Beachtung von Etikette und Kleiderordnung. Ihre goldfadendurchwirkte Karottenhose kniff im Schritt, aber unter dem Bademantel würde sie unbemerkt den Reißverschluss öffnen können. Sie holte die Bratpfanne aus der Küche und setzte sich zu ihm auf das Sofa.

Das Schaltkästchen der Fernbedienung schwitzte in seiner großen Hand. Verächtlich starrte er auf die winzigen Plastiktasten. „Ja ja, Registrierkasse!“ rief sie ungeduldig, „mach schon.“

Seine Finger machten sich über die Tastatur her auf der Suche nach dem zweiten Programm. In farbenprächtigen Bildern wurde der Empfang des Bundespräsidenten übertragen. Es roch nach Bier und Bratkartoffeln.

                                                                                          

Pflegeleicht

 Dr. Brandstetter empfand das alles als Belastung. Alles, was mit Bewegung zu tun hatte. Schweigend im Stuhl zu sitzen, nicht einmal mit den Wimpern zu zucken, das ging gerade noch. Allein das Atmen, wenn man doch nicht ständig atmen müsste. Vor dem Feierabend graute ihm. Den Schreibtisch aufräumen. Den Mantel überwerfen. Die Tür öffnen. Die Tür schließen. Sich zum Fahrstuhl bemühen. Ein „Grüß Gott“ entbieten müssen. Womöglich mehrmals. Welch ein Alptraum, welch grässliche Nachtmahr.

Dieses Wochenende würde er einen Schlussstrich ziehen. Würde einfach sitzen bleiben. Die Putzfrauen würde er schon ertragen können. Dann Ruhe. Stille. Eine himmlische Unbewegtheit über zwei Tage und drei Nächte hinweg.

Die Putzkolonne machte kein Aufhebens von ihm. Überall saßen sie jetzt herum in den Büros. In ihren Papierkörben hauste die Einöde. Mit einem resoluten Griff wrang die Aufwartefrau den Feudel aus und fuhr damit über seine Nase und seine Wangen. ‚Pflegeleicht sind sie ja‘, dachte sie und sprühte noch eine Brise Ajax Glasrein auf seine glanzlosen Pupillen.

 

Das Leben der Ameisen

 Natürlich wollte Dr. Brandstetter in seiner Jugendzeit Lokomotivführer werden. Ein Traum, den er mit vielen teilte. Er hatte alles klarsichtig geplant: zunächst die Schnupperwochen im Gepäckwagen, dann ein Volontariat als Billettschaffner. Von dort aus der Aufstieg in die Kanzel der Lokomotive, um schließlich – ein etwas sprunghafter Wechsel – als Kapitän die Weltmeere zu befahren. Zwischendurch focht er lebensbedrohliche Scharmützel mit den Sioux-Indianern Nordamerikas aus, auf schwankenden Seilbrücken über einem Cañon oder im Tal des Todes. Ab dem 12. Lebensjahr beschäftigte ihn das Tragen einer Kurzsichtigkeitsbrille. Dies warf ihn in eine andere als die vorgesehene Bahn, welche letztlich für einen nicht unangenehmen Wohlstand sorgte. Es ist nicht das Leben der Ameisen. Keine Mühsal. Freitags gar verlässt er die Firma bereits gegen 12 Uhr.

„Was willst du mehr?“ fragt Dr. Brandstetter oft seine Frau, und die Kinder nicken bescheiden.

 

Die gute Sitte

„Eine Überweisung nach alter Art und guter Sitte!“ Dr. Brandstetter hatte, wie er meinte, deutlich artikuliert, auch nicht die Wortendungen vernuschelt.

„Eine Überweisung?“ fragte der Fischverkäufer und beugte sich düster über einen toten Aal.

„Wollen Sie mir Ihre Schwerhörigkeit streitig machen, junger Mann?“ Schmerzhaft spürte Dr. Brandstetter die Abwesenheit guter Sitte, und er langte enttäuscht in den Heringssalat. Hierüber wachte er auf, dachte er, fuchtelte noch schlaftrunken zum Nachttisch, fand aber den Wecker nicht. Stattdessen glitt etwas Glitschiges über seinen Handrücken. Es war diese Berührung mit dem Karpfen, die ihn in die Wirklichkeit zurückstieß. Mit nassen Hemdsärmeln verließ Dr. Brandstetter das Postamt.

 

Die Frau in seinem Haus

Die Frau schlief sogar in seinem Bett. Sie hatte es sich auf der rechten Seite des feudal ausgestatteten Ehebettes eingerichtet. Meistens schlief sie mit offenem Mund, dann schnarchte sie. Um die Frau heimlich zu beobachten hatte Dr. Brandstetter seinen Rasierspiegel oben an dem Baldachin befestigt. Wenn sie zur Tür hereinkam, stellte er sich schlafend, horchte auf die Geräusche, auf das Rascheln von Tuch oder Seide, auf das Klicken des Lampenschalters, und dann blinzelte er vorsichtig mit einem Auge, warf einen verstohlenen Blick auf den Spiegel in der Furcht, sie könne es ihm gleichtun und ebenfalls in den Spiegel blicken, und so verharrte er starr und still, ließ das Bild der schnarchenden Frau tiefer und tiefer in sich eindringen, bis er selbst vor Erschöpfung in den Schlaf sank.

Am Frühstückstisch sah er die Frau wieder. Sie tat, als ob sie hierher gehörte. Seine beiden Kinder redeten sie mit Mutter an, so sind eben Kinder, sie verwechseln noch vieles und sind zu Schabernack aufgelegt.

 

Umwandlung

„Heirate mich“, sagte Dr. Brandstetter zu ihm. Man muss wissen, dass er bereits zwei Kinder geboren hatte, bevor er anfing, sich als Frau zu fühlen. Die vielen Jahre in der Sauna können diese Veränderung nicht bewirkt haben. Irgendwann ihm Mai erregte ihn ein bärtiges Gesicht, dass ihn ausdrucksleer anstarrte. Dr. Brandstetter fühlte, wie ihn eine sexuelle Wollust überkam, die er vorher nie empfunden hatte. Auf einmal schien ihm alles einfach und natürlich. Statt sich die Zähne zu putzen ergriff er den Rasierapparat und tat, was mit einem Rasierapparat zu tun ist. Nach sorgfältigem Schnitt hatte sich das bärtige Gesicht im Spiegel in ein rosiges, glattes Schweinsgesicht verwandelt. Es hatte weiblich-weiche Konturen, und er begann es zu hassen. Da wusste Dr. Brandstetter genug.

 

                                                                             

 

Die Macht der Musik

"Mehr kann ich für Sie nicht tun", unterbrach ihn der Abteilungslei­ter barsch, und um die Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit seines Be­schlusses zu untermauern, öffnete er das Fenster. Eine obszöne Melodie drang in das Büro. Dr. Brandstetter wurde es mulmig, seine Knie schwabbelten. Gegen obszöne Melodien war er nicht gewappnet. Zu allem Übel klemmten auch noch seine Augenlider, und ungehindert purzelten wehleidige Tränen­würfel über seine Wangen. Seiner Schmach und Schand! Er stand auf verlo­renem Posten, rollte bereits die Zunge zum Speichelhub, den bückelnden Kotau im Angesinn, als die Tür aufgestoßen wurde und ein moralinöser Luftzug den schlüpfrigen Akkorden Beine machte. Im Türrahmen aber lo­derte Fräulein Becker, die Sekretärin seines Vorgesetzten.

Potzhunderttausend! Mir ihr hatte Dr. Brandstetter schon manches Osterfeuer gewonnen. Gewendet hatte sich das Blatt, dem perversen Geschmeichel der lüsternen Harmonien war er knapp entronnen. Natterngleich fuhr seine Hand in das Westentaschengeviert, umschloss das Foto von seiner Erstkom­munion und zog blank. Der Schlag saß. Entsetzt stierte der Abteilungslei­ter auf die Ablichtung, seine Au­gen troffen Salz und Tinte. Geblendet taumelte er gegen den Schreibtisch. Ei, wie er röchelte, wie er um Gnade winselte. Dr. Brandstetters Beförderung war nun lediglich die Sache eines Fe­derstrichs.

Später und schweren Herzens schenkte er das Bild von seiner Erstkom­munion seinem Sohn. Aber der Lümmel machte keinen Gebrauch davon, war verweich­licht und brachte es noch nicht einmal zum Lagerverwalter. Wie man hört, soll er die Fotografie beim Anhören obszöner Melodien mit Senf bestrichen und aufgegessen haben.

 

 

In Stahl und Stacheln

Seine beiden Koffer hatte er bereits durch die Schleuse geschoben. Der Röntgenkontrolle des Flughafens war nichts aufgefallen. Am Ende des Ga­tes wartete noch ein Uniformierter, der Dr. Brandstetter mit einem ringförmi­gen Detektor über das Gesäß strich.

Es piepte. Dr. Brandstetter schämte sich. Wieder einmal, wie damals im Ten­nisklub, sorgte seine eiserne Unterhose für missbilligende Blicke, ver­stohlenes Gelächter. Woher sollten die Gimpel auch wissen, dass das ehr­würdige Erbstück seinem Großvater einmal das Leben gerettet hatte!

Er entledigte sich seines liebevoll eingeölten Slips und stakelte mit steifen Beinen zur Gangway. Warum nur hatte er seiner Frau nachgegeben, als sie ihm die Igelhauthose aufschwatzte! Die Stachel kratzten hie und auch dort, und er wünschte sich nichts sehnlicher als seine eiserne Unterhose zurück.

 

Eine Dreiecksgeschichte

"Du verplanst mich", warf sie ihm vor. Das Restaurant war nur mäßig be­sucht, deshalb konnte Dr. Brandstetter das Gespräch des Paa­res am Nebentisch ohne Mühe verfolgen. Der Mann schien seine Frau nicht weiter zu beachten. Er fraß – ja er fraß – eine dieser deut­schen Schweinshaxen; Sauerkrautreste hingen in seinem Bart. "Zah­len!" rief die Frau und warf einen Geldschein auf den Tisch, "wir gehen." Beide blieben. Es wurde Mitternacht, keiner machte Anstalten, das Lokal zu verlassen. Mürrisch hoben die Bediensteten die Stühle auf die abge­räumten Tische.

Dr. Brandstetter kann nicht erklären, warum sie sitzenblieben: die Frau, der fressende Mann und er selbst. Es gibt Geschichten, die nie enden. Obwohl die Kellner gegangen, das Licht gelöscht und die Knödel erkaltet sind.

 

Fair Play

Dr. Brandstetter hatte sich mit der Menschenmenge treiben lassen und war unversehens auf der Tribüne eines Fußballplatzes gelandet. Die Leute um ihn herum hatten sich mit einem durchdringenden Deo eingesprüht, welches nach Export-Bier dünstete. Sie schwenkten Fähnchen einer ihm fremden Re­publik und tuteten in Hörner und betätigten Trommelstöcke.

Zu seinem Leidwesen bekam Dr. Brandstetter nur Bruchstücke des Spiels zu Gesicht, denn die Zuschauer vor ihm sprangen in ungeordneten Inter­vallen auf, um gutturale Laute auszustoßen. Lange konnte er dem Sog des Hin- und Herwogens nicht widerstehen. Schließlich riss es ihn vom Sitz, und er schrie: "Tor!"

Warum die anderen lachten, wusste er nicht. Ihn aber durchströmte ein wunderbar befreiendes Gefühl. Wieder und wieder schrie er "Tor", ja er brüllte unfein, in geradezu ungehobelter Manier. Bis ein Ordner die Ränge erklomm und ihn zur Ruhe ermahnte. Trotzig kickte Dr. Brandstetter eine leere Bierdose in die vierte Reihe und verpasste dem Ordner einen Uppercut. Ein Gefühl edlen Sportsgeistes beseelte ihn, er pinkelte sich in die Hose, und da ahnte er, wie es ist, wenn man einen Elfmeter hält.

 

Zwei Passanten

Ein klärendes Wort kam nie über ihre Lippen. Sie verhielten sich wie Säuglinge. Ein Nuckeln an den Erscheinungen um sie herum. Der andere, es musste sich um ein männliches Wesen gehandelt haben, Dr. Brandstetter erinnert sich an Bartstoppeln, Flüche aus rauer Kehle, an Bier- und Zigarrengestank, der andere tat sich im Verlauf als rücksichtsloser Kraftfahrer hervor, um Streit und Kontroversen unablässig bemüht. Wie zu erwarten entschlief er nicht eines Nachts zu akzeptablen Bedingungen. Nein, er verpasste sich einen komplizierten Unfall, bei dem zwei Passanten zusätzlich durch ihr unfreiwilliges Ableben erstmalig mit genauer Beschreibung der Tatumstände auf der Hauptseite des regionalen Tagesblattes namentlich erwähnt und schlagartig stadtbekannt wurden.

Nun zu Dr. Brandstetter. Er ist verheiratet und bevorzugt gelbe Krawatten. Er trägt sie nie, denn er besitzt keine einzige.

 

Cinema

Dr. Brandstetter bezahlte die Kinokarte, nahm noch eine Stange Pfefferminzdrops und setzte sich in die fünfte Reihe. Er wusste, es würde ihm nicht gefallen.

Das Kino war kalt und schmuddelig. Sein rechter Nachbar hustete Staccatosalven und würgte am Auswurf. Vor ihm rekelte sich ein massiger Skinhead, der seinen Stahlhelm nicht abzunehmen gedachte. Der Sitz links war frisch mit Pattex geleimt worden, dem Geruch nach.

Verstohlen musterte er die junge Frau, die das reparierte Möbel auf seine Haltbarkeit zu testen bereit war. Sie trug Eisenhaken am Ohrläppchen und Nieten in den Nasenflügeln. An dem Ohrenschmuck war eine Sonnenbrille angelötet in Größe und Form eines Alligators. Sie roch. Es war ihr Parfüm, das so roch, nicht Pattex, und der Stuhl war heil.

Später, am Ausgang, würde er sie fragen, ob sie ihn heiraten wolle, und sie würde ihm ihr Jawort geben und ihm zwei Kinder schenken. Dr. Brandstetter hatte gewusst, es würde ihm nicht gefallen.

 

Wurst

Einen Sonnenbrand wollte Dr. Brandstetter sich nicht gerade holen. Es gelüstete ihn nach lauem Wasser, in das er seine Arme und Beine einzutauchen gedachte. Ja, die weichen Wellen würden seiner Haut schmei­cheln. Also setzte er sich in die Linie 11, deren Ziel die städtische Badeanstalt war. Diese fand er beinahe leer vor. Das wunderte ihn, hielt ihn aber nicht ab. Behut­sam ließ er sich in das Schwimmbecken gleiten. Mit ruhigen Zügen durchmaß er die Bahn. Ab und zu schwappte eine Handvoll Wasser in seinen Mund, welches er träge wieder ausspie.

Da begab sich etwas Unvorhergesehenes, welches sein Wohlbefinden trübte. Ein Exkrement dümpelte in gemächlichem Auf und Ab vor seiner Nase. Es war von fester Konsistenz und rollte leicht um seine Längsachse. Den Rauminhalt hätte man mit komplizierten mathematischen Formeln berechnen können, wobei Integral und Differential hätten bemüht weden müssen. Leichter wäre es mit der Messung der Wasserverdrängung gegangen. Über die Form des Exkrementes hätte sich einiges sagen lassen. Mit dem Begriff Wurst wäre am besten gedient gewesen, eine dem Volksmund abgelauschte Metapher.

Dr. Brandstetter nickte. Ja, Wurst war das richtige Wort.

 

Hintersinn

„Ich falle immer wieder auf dich herein." Die klei­ne Frau ärgerte sich über ihre Dummheit und sto­cherte fahrig mit dem Regenschirm in den Fugen des Pflasters herum. Dr. Brandstetter bückte sich, um ein gelockertes Schnürband festzuknoten. „Du entziehst dich mir mit maßlosem Aufwand!" schrie sie unge­halten.

Sie befanden sich auf einer verkehrsreichen Straße, eine altertümliche Litfaßsäule in ihrem Rücken. Die Plakate ver­sprachen „Makeloses Dra", der Rest bog sich mit dem Bauch der Säule unleserlich auf die rückwärtige Seite. Man hätte die Säule umrunden müssen, um den ganzen Satz aufnehmen zu können, den Hinter­sinn zu entziffern. Vielleicht im Laufschritt, so blei­ben die ersten Wörter frisch im Gedächtnis, nachfol­gende Aussagen fügen sich ein, der Zusammenhang erschließt sich, und man durchschaut nun das ge­samte werbemäßige Anliegen, bevor noch die ersten Wörter wieder in das Blickfeld geraten.

 

 

Der Ausflug

Dr. Brandstetter hatte einen Fahrradausflug mit seiner Frau und seinen beiden Kindern geplant, aber es hatte dann doch nur zu einem Spaziergang an den ortsnahen Weiher gereicht. „Wir besitzen nur zwei Fahrräder“, hatte seine Frau geklagt, „und eines ist kaputt.“

„Wir könnten im Aufsitzverfahren…“ Seinen Einwand hatte er nicht zu Ende bringen können, denn die Kinder hatten sich bereits auf ihre Zimmer begeben und auch die Frau zog sich vornehm in das Schlafgemach zurück. Später, es ging auf Mitternacht zu, schaltete Dr. Brandstetter den Fernseher aus. Das Protokoll der Fahrradtour musste noch fertiggestellt werden, obwohl er bereits den Muskelkater in den Beinen spürte. ‚Wenn ich nur wüsste‘, grübelte er, ‚wo wir die Fahrräder zurückgelassen haben‘. Er sah in der Dusche nach, und dort fiel es ihm wieder ein: im Schuppen neben den Mülltonnen! ‚Der Tag klingt gut aus‘, dachte Dr. Brandstetter voller Dankbarkeit, ‚das kleine Glück, es liegt praktisch auf der Straße‘.

 

Dr. Brandstetter grillt

 

Der Grillabend war ein voller Erfolg gewesen. Dr. Brandstetter hatte die Nachbarn eingeladen, ein müde wirkendes, wortkarges Ehepaar, kinderlos, zwei Katzen, zwei Urlaubsreisen pro Jahr, jedesmal Berchtesgaden.

Sie kamen zu früh. Dr. Brandstetter hatte noch nicht einmal die Kohlen in den Grill geschüttet, geschweige denn das Grillgut aufgelegt. Sie überbrückten die Zeit mit einem Glas Sekt. Es stellte sich heraus, dass die Nachbarn mit Nachnahmen Randstädter hießen, Gerold und Inge.

„Welch ein Zufall“, sagte Inge.

„Diese Namensähnlichkeit“, ergänzte Gerold.

„Vielleicht sind wir ja sogar miteinander verwandt“, sagte Dr. Brandstetter und pustete in die glimmenden Kohlen.

„Über zwei Ecken“, sagte Inge.

„Über zwei nur?“ widersprach Gerold, „ich würde sagen, das reicht nicht.“

„Man hat herausgefunden“, sagte Dr. Brandstetter, „dass alle Menschen auf der Erde über 6 Ecken miteinander verwandt sind.“

„Was du immer erzählst.“ Frau Brandstetter war mit einem leeren Tablett aus der Küche gekommen. Sie würde nun das Gespräch an sich reißen, das wusste Dr. Brandstetter. Er nahm ihr das Tablett ab und lief zurück ins Haus, um die Grillwürste und den Kartoffelsalat zu holen. Im Kühlschrank fand er nur eine Flasche Buttermilch. „Inge“, rief er durchs Haus, „ich binde mir noch schnell eine gelbe Krawatte um!“

„Tu das, Gerold“, schallte es aus dem Badezimmer, „Und vergiss nicht die Katzen zu füttern.“

Ach ja, die Katzen. Die hätte er beinahe vergessen.

 

Was als erstes kommt

Um das Wohnzimmer neu zu tapezieren,  mussten vorab einige Berechnungen angestellt werden. Mit Zirkel, Bandmaß und einem soliden Dreisatz wollte Dr. Brandstetter diesem Umstand Rechnung tragen.

„Wir brauchen als erstes einen Tapeziertisch“, nörgelte seine Frau.

„Was wir als erstes brauchen“, erwiderte Dr. Brandstetter scharf, „ist eine lückenlose Materialliste und die Aufstellung eines wohldurchdachten Workflows. Dazu müssen Fragen grundsätzlicher Bedeutung geklärt werden als da sind: Wie viel Liter Leim benötigen wir für wie viel Quadratmeter Tapete bei Berücksichtigung eines Verschnitts von wie viel Prozent. Das als erstes!“

Die Frau griff sich einen Groschenroman aus dem Zeitungsständer, schlurfte zur Tür des schwülstig ausgestalteten Schlafzimmers und verschwand hinter einer Wolke von Moschusduft. Gedämpfte orientalische Klänge drangen durch die Schlafzimmerwand, übertönt vom Gebetsruf ein Muezzins.

„Pinsel, Rollen, Tapeziermesser“, schrie Dr. Brandstetter, „an alles muss gedacht werden!“

Auch an die Elektrik, durchfuhr es ihm bitter, natürlich, und die Wände mussten neu verputzt werden; den Gashahn abdrehen, das Dromedar füttern, einen Vorrat an Datteln und Feigen in die Satteltaschen packen, nicht zu vergessen die rituelle Fußwaschung. Er warf sich auf sein Reitkamel und schloss sich der Karawane an, die an dem Haus vorbeizockelte, geradewegs in die aufgehende Sonne hinein, in eine Welt ohne Tapeziertisch und ermüdende Dispute über die Frage, was als erstes zu tun sei.

 

Das Kopfschütteln

Wann immer Dr. Brandstetter sich in die Fußgängerzone begab, auch zu Ladenschlusszeiten, stets begegnete er den beiden Herren Hruczius, zwei unverheirateten Brüdern, die angelegentlich – genauso wie er selbst – an den Schaufenstern vorbeiflanierten. Einen Blick hineinwerfen, Preise vergleichen, Sonderaktionen vormerken, „alles ohne Hast, nicht wahr?“

Dr. Brandstetter wandte sich abrupt ab. Er fühlte sich belästigt, verfolgt. Wie als Bestätigung seines Verdachts liefen ihm an der nächsten Straßengabelung die beiden wieder über den Weg. „Welch ein Zufall!“ riefen sie wie abgesprochen und schüttelten den Kopf als Zeichen ihrer Überraschung. Dr. Brandstetter schüttelte ebenfalls den Kopf, nicht als Zeichen der Überraschung sondern als Ausdruck seines Unwillens. Sie standen sich gegenüber, wie abgezirkelt, an den Eckpunkten eines imaginären gleichschenkligen Dreiecks, maßen mit den Augen die Entfernung zueinander – und schüttelten weiterhin ihre Köpfe. Ja es schien, als würden sowohl Intensität als auch Frequenz des Kopfschüttelns zunehmen, kaum merklich zwar, aber unübersehbar für den, der es eine Weile beobachtete. Eine Verschnaufpause gönnten sich die Kopfschüttler nicht, im Gegenteil, sie erhöhten sogar das Tempo ihres unerklärlichen Tuns. Heimstrebende Büroangestellte drehten sich befremdet nach ihnen um, ein schwarzer Hund fing zu bellen an und umkreiste das kopfschüttelnde Trio. Allmählich steigerte sich das Schütteln in eine Art Flattern, welches in ein Schleudern überging. Erste Nachahmer reihten sich ein, die Schüttelmanie ergriff harmlos vorbeischlendernde Passanten und sogar einen Polizisten, der dem Treiben eigentlich ein Ende setzen wollte. Warum nur den Kopf, fragte sich Dr. Brandstetter, und er fragte es sich ein weiteres Mal, überrascht von der Klarheit seiner Gedanken. Bevor er den Gedanken auf den Prüfstand von Logik und Plausibilität stellen konnte, bemerkte er, dass die Brüder Hruczius zusätzlich mit den Beinen strampelten.

Diese Halunken! Diese abgefeimten Spitzbuben! Dr. Brandstetter war sich sicher, dass die Lumpenbrüder hier ungeniert einen Versicherungsbetrug inszenierten. Und er war darauf hereingefallen.

 

                                                                                  

Angebrannt

 

Einmal kochte sich Dr. Brandstetter ein Süppchen.

Es war hart wie sein Glied, in das er es hineinsteckte.

(Was? Wohin?).

 

Der derbe Witz

Einmal im Monat geht Dr. Brandstetter gesellschaftlichen Pflichten nach, die aber eher des Heiteren zugetan sind. Es ist der Abend, an dem er sich aufgeräumt gibt und auch schon mal einen derben Witz zum Besten gibt. Es ist immer der gleiche derbe Maurerwitz, aber die anderen lachen bereitwillig über den derben Witz des Dr. Brandstetter. Einige halten sich die  Hand vor den prustenden und leicht feuchtenden Mund, damit keiner an den Nebentischen sie für primitive Proleten hält, die sich in geselliger Runde regelrecht entgrenzen, und deren niedere Gelüste schon bei Nennung anstößiger Kalauer ans Tageslicht der Öffentlichkeit quellen.

Hier nämlich, in der Gaststube der Goldenen Taube, tagt der Stammtisch der Graduierten, derjenigen Stadtbürger, die sich mindestens eines Doktortitels rühmen dürfen. Ein Pool der Intelligenzija, wie Dr. Dr. Hoffmann einmal trefflich und fein zugespitzt hinausposaunte. Worauf Dr. Brandstetter mit dem derben Maurerwitz aufsattelte und die ganze Stammtischrunde sich bog vor Wohlbehagen. Bis auf die bereits Erwähnten, die es sich lieber hinter vorgehaltener Hand gut tun ließen.

Spätnachts, wenn Dr. Brandstetter ein wenig beschwipst und noch freudig durchwirkt heimkehrt, richtet sich seine Frau schlaftrunken im Bett auf und schnaubt missgelaunt: „Schon wieder Aale gefangen?“

„Diesmal sind es fünf Prachtexemplare“, ruft Dr. Brandstetter aus dem Abstellraum, wo er gewissenhaft das Angelzeug verstaut, „beim nächsten Mal werde ich auf Zander ködern.“ Er zerrt an den Gummistiefeln, aber sie lassen sich nicht abstreifen. Deshalb legt sich Dr. Brandstetter zum Schlafen auf das Sofa im Wohnzimmer. Kein Traum stört seine Nachtruhe. Nur seine Lippen bewegen sich manchmal, formen unhörbar einen derben Maurerwitz.

 

Der korrekte Weg der Heilung

Dr. Brandstetter hatte sich das Handgelenk verstaucht, vielleicht sogar gebrochen. Es geschah, als er die Dachrinne säubern wollte. Er hatte die Leiter angestellt, war hochgestiegen und abgerutscht.

Nun saß er in der Notaufnahme des Krankenhauses. Sein Handgelenk war stark angeschwollen. Ein Arzt war nicht zu sehen. Krankenschwestern liefen geschäftig zwischen den Räumen hin und her, Labor, Radiologie, Aufnahme, Flur. Falsche Reihenfolge, dachte Dr. Brandstetter, die Abfolge muss lauten: Flur, Aufnahme, Wartezimmer, Arztzimmer, Labor, Radiologie, wieder Arztzimmer, Flur, Ausgang, Bushaltestelle, Bus, Apotheke, Bus, Haus, Küche, Kaffee mit Rosinenbrötchen.

„So wird ein Schuh daraus“, sagte Dr. Brandstetter befriedigt zu der dicken Frau neben ihm, deren Arm eingegipst war. Er stand auf und begab sich zum Flur. Hier wiederholte er seine Ankunft, diesmal mit korrekter Ausführung der weiteren Schritte und Stationen. Sofern er keine Station ausließ, dürfte die Heilung seiner Wunde nur noch eine Frage der Geduld und der peniblen Einhaltung des Weges durch die Instanzen sein.

Als Dr. Brandstetter drei Stunden später wieder zu Hause war und in die Küche trat, eröffnete ihm seine Frau, dass der Kaffee zur Neige gegangen war. Auch sei weder Muckefuck noch Instant aufzutreiben und das Rosinenbrötchen habe der Hund gefressen. „Dann“, rief Dr. Brandstetter enttäuscht, „dann reißt sich die Ameise kein Bein aus dem Leib“. Er stürmte hinaus, stieg auf die Leiter, rutschte ab und brach sich den linken Fuß.

 

Was als erstes kommt

Das Kopfschütteln

Angebrannt

Der derbe Witz

Der korrekte Weg der Heilung

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Wurst

Hintersinn

Der Ausflug

Dr. Brandstetter grillt

 

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