Hans Joachim Teschner

 

 

Dr. Brandstetter hat eine Idee

Knapp geschafft

Widerworte

Ein neuer Lebensabschnitt

Zu Ostern

Schulschluss

Das Röhren

Der Kreis

Das Intelligible

Flohmarkt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dr. Brandstetter

Das zweite Leben

VOL. 2

 

Dr. Brandstetter hat eine Idee

Mitunter kam Dr. Brandstetter auf die ihm selbst nicht ganz angenehme Idee, er müsse einen Seitensprung wagen. Dies sei unabänderlich in Zeiten, in denen Ehen geschlossen würden, die nur dazu gedacht seien, zu einem oder besser noch zu stetigen Seitensprüngen zu ermuntern. Schließlich läge es in der Logik der Sache, dass ein Seitensprung erst durch die Eheschließung ermöglicht würde. Oder zumindest durch eine verbindliche Freundschaft, die auf Treu und Glauben basiere. Jedenfalls, so resümierte Dr. Brandstetter, bewiesen ja die vielen Fernsehfilme, wohin der Zug abgefahren sei. Moderne Zeiten halt. Unter Umständen habe er selbst bereits den Anschluss verpasst.

Auf seinen wenigen Geschäftsreisen hatte Dr. Brandstetter bisher keine Gelegenheit, seine frivole Idee in die Tat umzusetzen. In den Hotelbars saßen kaum einzelne weibliche Exemplare herum, die ihm für den angepeilten Zweck geeignet schienen. Nun war Dr. Brandstetter, wie er sich eingestand, nicht gerade der Prototyp eines Casanovas, Hallodris oder eines mit Galanterie für sich einnehmenden Charmeurs. Eher der Typ solider Buchhalter. Unscheinbar im Ganzen. Kein Draufgänger.

Es müsste schon auf mich zukommen, dachte Dr. Brandstetter, nachdem er seinen Apfelsaft bezahlt hatte und vom Barhocker rutschte, um auf sein Hotelzimmer zu gehen. Die Leute in der Hotelhalle blickten ihm nach. Eine Dame winkte ihm angeregt zu. Ein älterer Herr verneigte sich bewundernd vor ihm. Und da waren noch die beiden aufreizenden Blondinen, die sich ihm in den Weg stellten, sich unverhohlen anboten. Dr. Brandstetter wich ihnen höflich aus und drückte auf den Fahrstuhlknopf.

Dies ist eben nicht mein Tag, dachte er bitter.

 

Knapp geschafft

Jedesmal, wenn der alte VW Passat seinen Dienst versagte, nahm sich Dr. Brandstetter vor, ihn zu verkaufen und endlich ein neues Auto zu erstehen. Wie so oft gab der Motor die üblichen Geräusche der Widerborstigkeit von sich: Stottern, ein Knall hinten am Auspuff, ein Jaulen wie von einer Kreissäge. Kreischsäge sollte man besser sagen, fuhr es Dr. Brandstetter durch den Kopf, oh ja, Kreischsäge, das musste er sich merken und morgen im Büro der Sekretärin Frau Grubolewski unterjubeln, die würde sich wundern über seinen Sprachphantasie und nicht lange zögern und weiß der Himmel was noch alles, was er sich gar nicht ausdenken konnte, so abwegig erschienen ihm die Möglichkeiten. Gut, er hatte schon manches mit der Sekretärin durchgepeitscht, zum Beispiel das Kondolenzkonvent für den Karnevalsprinzen, das in ein heikles Dreispartenschießen mündete, welches er aber, dank der Lockgerüche seiner Sekretärin, mit zwei erlegten Sauen knapp für sich entschieden hatte. 

Endlich sprang der Motor an. Befriedigt stieg Dr. Brandstetter aus, ging zurück ins Haus, hob den Telefonhörer ab und bestellte eine Pizza.

 

Widerworte

„Zum Hauptbahnhof“, sagte Dr. Brandstetter. Der Taxifahrer drehte sich um und murrte: „Hier ist der Hauptbahnhof.“

Widerworte, dachte Dr. Brandstetter bitter, das reißt langsam ein. Erst die Kinder, die Frau sowieso, jetzt auch noch die Bediensteten. Die Zeit wird reif für einen Umsturz.

Er stieg aus und ging davon, ohne sich zu verabschieden. Es ging auf Mitternacht zu, als er endlich beim Postamt ankam. Der Schalter war geschlossen. Dr. Brandstetter nahm einen herumliegenden Stein und warf ihn in die Scheibe. Die Scheibe hielt stand, und der Stein prallte zurück. Dr. Brandstetter wunderte sich schon nicht mehr. Morgen würde er eine Beschwerde an den Petitionsausschuss des Bundestages aufsetzen, obwohl der Brief nie ankommen würde, denn die Post war ja geschlossen.

Dieses Leben, dachte Dr. Brandstetter, während er zum nahe gelegenen Rathaus stapfte, dieses Leben verdient es einfach nicht, egal, was es ist.

 

                  

 

Ein neuer Lebensabschnitt

Dr. Brandstetter blätterte die Stellenangebote durch. Mal einen anderen Weg einschlagen, dachte er, einen neuen Beruf erlernen oder auch nur einen freien Job annehmen, statt Tag für Tag ins Büro zu trotten und sich die Frechheiten der Untergebenen anzuhören. Radikal brechen mit den alten Gewohnheiten. Mit Frau Grubolewski, der Sekretärin, ging es ja noch, mit ihr hatte er sogar mal ein Techtelmechtel gehabt, das er ruhmreich beendet hatte. Indes: Die Zeit wurde knapp für einen Berufswechsel. Bald würden ihm die Kräfte schwinden, das Gedächtnis würde nachlassen und er würde sich zum Gespött der Mitarbeiter machen, wenn er mit Pantoffeln und offenem Hosenschlitz am Schreibtisch sitzen würde, den Bleistiftspitzer in der Faust. Überhaupt Bleistiftspitzer: Wer benutzt heutzutage noch einen Bleistiftspitzer? Wie war dieses Gerät in seine Schreibtischschublade gekommen? War es ein Relikt seines Vorgängers, der vor 27 Jahren seinen Platz räumen musste?

Dr. Brandstetter wusste auf all diese Fragen keine Antwort. Es wurde höchste Zeit, in die anderen Schreibtischfächer zu gucken. Er machte sich eine Notiz am Rande der Stellenangebote und warf die Zeitung dann in den Müllcontainer.

 

Zu Ostern

Seine beiden Kinder und die Frau, die in seinem Haus wohnt und sich als die Mutter der Kinder ausgibt und sogar in seinem Schlafzimmer nächtigt, würden sich wundern. Dr. Brandstetter hatte beschlossen, zu Ostern einen alten Brauch zu beleben, den die Familie noch nicht kennengelernt hatte, nämlich das Ostereiersuchen. Es galt zunächst, die Eier hart zu kochen. Dies gelang ohne weitere Komplikationen. Nun machte er sich daran, die Eier bunt anzumalen. Hier bewies er weniger Geschick, und für ein vergleichbares Ergebnis hätte er im Büro kein Verständnis aufbringen dürfen und seiner Sekretärin, Frau Grubolewski, streng die Leviten gelesen.

Man muss auch mal alle Fünf gerade sein lassen, beschwichtigte Dr. Brandstetter sich selbst. Er packte die Eier in seine Aktentasche, radelte in den nahe gelegenen Stadtwald und versteckte die Eier im tiefsten und dunkelsten Gebüsch, das er ausfindig machen konnte.

Die Kinder zeigten kein Interesse. Sie hantierten den ganzen Tag an einer Spielkonsole und waren nicht ansprechbar. Die Frau tippte sich an den Kopf und verschwand im schwülstig ausgestatteten Schlafzimmer, wo sie einer vor Wochen begonnenen und nie endenwollenden Tätigkeit frönte, dem Zusammenflicken einer bedrohlich raumgreifenden Patchworkdecke mit krakenhaften Ausläufern, zotteligen Zöpfen, Nebendeckchen und vorhanggroßen Einschlagtüchern, auf der orientalische Motive, Wasserfälle, Baukräne, Fleischereibedarf und sogar ein ICE-Zug appliziert waren.

Eier, dachte Dr. Brandsteter verdrossen, genau so gut hätte ich ein blutiges Massaker anrichten können. Er ging in die Küche und zog ein Tranchiermesser aus dem Messerblock. Mit der Zunge prüfte er die Schärfe. Dr. Brandstetter nickte zufrieden. Er schlich zur Schlafzimmertür und starrte sie an. Lange, sehr lange starrte er auf die Tür.

 

Schulschluss

Die Frau in seinem Haus hatte ihm aufgetragen, die Kinder von der Schule abzuholen. Er habe lediglich um 10 vor Eins vor dem Schulportal zu warten. Das Weitere würde sich ergeben.

Dr. Brandstetter spürte einen pelzigen Belag auf der Zunge. Wenn ich einen Spiegel hätte, dachte er, könnte ich die Beschaffenheit des Belages herausfinden. Sollte dieser eine ungesunde Färbung annehmen, zum Beispiel ins Grünliche übergehen mit roten Einschüssen, dann, ja dann wäre die Abholung der Kinder nachrangig. Dann hätte der Gang zum Arzt die höhere Priorität.

Dr. Brandstetter fuhr den Wagen an den Seitenstreifen und hielt an. Er klappte den Kosmetikspiegel zurück und streckte die Zunge aus. Es war nicht der Belag auf seiner Zunge, der ihn beunruhigte. Es waren die Augen, die ihn anstarrten. Diese fremden Augen mit ihrem oszillierenden Geflimmer. Er musste die Nacht abwarten, bevor er weiterfahren konnte. Die Kinder würden schon allein nach Hause finden.

 

Das Röhren

Dr. Brandstetter hatte sich zwei Skistöcke gekauft. „Ab dem morgigen Tag werde ich Nordic Walken“, rief er in durch den Flur in Richtung Schlafzimmer, „es wird Zeit, dass ich etwas für meine Gesundheit tue.“

„Tu das“, hörte er die vertraute Stimme, die der Frau in seinem Haus angehörte. 

„Etwas Bewegung könnte auch dir guttun“, setzte er hinzu, allerdings ohne Hoffnung.

„Soll das heißen, dass ich zu dick bin?“ Die Stimme der Frau hatte sich verändert. Es ist nicht gerade ein Kreischen, dachte Dr. Brandstetter, eher eine Erhöhung der Lautstärke, einhergehend mit einer Zunahme des hohen Frequenzanteils gedämpft durch den schweren Vorhang, den sie vor die Schlafzimmertür angebracht hatte. Um einzutreten musste der Vorhang zur Seite geschoben werden. Dann erblickte man das Panorama einer Gebirgsszene mit sprudelndem Bach und einem Hirschen, der das Maul geöffnet hatte. Vorige Woche hatte die Frau die Fototapete auf die Schlafzimmertür geklebt.

„Vermutlich um zu röhren“, murmelte Dr. Brandstetter im Beisein seiner geistigen Kräfte.

 

 

Der Kreis

Als die Eltern von Dr. Brandstetter noch lebten, mussten beide, Dr. Brandstetter und die Frau in seinem Haus, an jedem ersten Sonntag im Monat zum Rapport hinfahren. Eine gute Autostunde über die Landstraßen. Die Frau brachte selbst eingekochte Marmelade mit, manchmal einen Blumentopf. Nach der Geburt des ersten Kindes erhöhte sich die Verpflichtung. Der frisch gewindelte Bub wurde zu den Marmeladetöpfchen auf die Rückbank des VW Käfers verladen, um bei Zielankunft herumgereicht zu werden, einmal zur Anschauung, zum andern zur Bewertung des Wachstumsvorganges. Die Eltern, nunmehr Großeltern, sprachen dann Worte der Anerkennung aus. Den Anblick des zweitgeborenen Kindes resp. Enkelkindes wurden die Großeltern nicht mehr gewahr. Beide starben vor dem angekündigten Familienzuwachs. „Vor der Geburt wurde die Todesmarke gesetzt“, sagte Dr. Brandstetter zu seiner Frau. Und er fügte hinzu: „Man kann daraus die Bedeutungslosigkeit des ewigen Kreises lernen und den Lauf der Welten Dinge.“

Die Frau schnaufte und blies ihre Backen auf.

 

Das Intelligible

Meistens machten die Kinder nicht, was Dr. Brandstetter ihnen vorschlug. Es sind vaterseitliche Anstrengungen, derer diese dazumal nicht würdig geheißen werden können, dachte er in einer verzwickten Art kunstvoll konstellierter Wörter. Und schon gar nicht, so setzte er seinen Gedanken fort, schon gar nicht sind diese von mir angezeigten Würdelosen es wert und fähig, verzwickte Kombinationen von Wort und Klang – das heißt nichts anderes als raffiniert zusammengesponnene Fäden des Intelligiblen – teilhaftig zu werden. Hier muss eine Verschwendung der Humanressourcen beklagt werden.

Damit ließ Dr. Brandstetter es sein, und er wandte sich wieder seiner Knüpfarbeit zu. 2174 Knoten aus fingerdickem Ankerseil wollte er zusammenknüpfen, dann hätte er einen schönen großen Klumpen zusammen. „Um den Klumpen flechte ich hernach einen Bienenkorb“, rief er der Frau in der Küche zu, „Sollst sehen, wie gefällig alles wirken wird.“

Und mit einem Lötkolben wollte Dr. Brandstetter sieben schwarze Löcher in den Korb brennen. Aber das verriet er nicht, denn es sollte eine Überraschung werden.

 

Flohmarkt

Dr. Brandstetter und seine Familie wollten sich an einem Flohmarkt beteiligen, der in ihrer Straße ausgerichtet wurde. Die beiden Kinder schafften ihre alten Bilderbücher, Videos und sogar Anziehsachen in den Vorgarten, um damit einen ordentlichen Reibach zu machen, wie der Bub feuchtsprachlich verkündete.

Zwischen der Frau und Dr. Brandstetter entbrannte ein Disput. Die Frau war nicht bereit, ihre Nachttischlampe herzugeben. „Niemals“, rief sie. „Aber sie ist doch defekt“, erwiderte er sanftmütig, im Glauben an die Überzeugungskraft stichhaltiger Argumente. Sie schlug nun einen härteren Ton an: „Jedesmal wenn du einen Satz mit aber anfängst, läuft es auf das gleiche hinaus, nämlich auf Rechthaberei, Vergewaltigung und Streitsucht. Ich hingegen, Königin Josepha zu Habsburg und Hohenstauffen, lasse mich nicht schikanieren!“

„Und wie soll ich morgen zur Arbeit kommen?“ fragte Dr. Brandstetter. Er drehte sich mit dem Rücken zur Haustür, stieß diese mit der Hacke auf und verließ den kriegerischen Ort, dabei stramm rückwärts gehend. Vielleicht, dachte er, bringt die Spiegelung ihres wunderlichen Auftretens sie zur Einsicht. Die Frau sah weder hin noch ein, sie marschierte in das Schlafzimmer und schloss sich ein. Orientalische Musik klang durch die Türritzen. Auf der Straße begann das Feilschen.

 

Den Finger in die Wunde

Von seinem Bürofenster konnte Dr. Brandstetter den firmeneigenen Parkplatz einsehen und jeden Morgen das gleiche Schauspiel beobachten. Gegen 9 Uhr 10 steuerte sein Vorgesetzter seinen Mercedes durch die Eingangsschleuse und zielte, nach kurzem Stop, die ihm reservierte Parkbucht an. Und wie an jedem anderen Tag benötigte er auch heute einen missglückten Anlauf, dann eine im Rückwärtsgang vorsichtig jonglierte Berichtigung des Einfahrwinkels und zum guten Ende das Einparken mit einem zentimetergenau gleichen Abstand zu beiden Seiten. Eine Verbesserung des Einpark-Rituals schien außerhalb der Vorstellungskraft des Fahrers zu liegen. Dr. Brandstetter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, obwohl eine launige Lebenseinstellung, aufgezeigt durch ein Grinsen, welches den Ernst der Dinge auf die leichte Schulter nahm, nicht seine Sache war.  

Im Gegenteil, er würde den Finger in die schwärende Wunde stoßen, würde seinem Chef vorrechnen, was diese täglichen Fahrmanöver kosteten. Den zusätzlichen Benzinverbrauch. Die daraus resultierenden Mehrkosten. Die Luftverschmutzung sowieso. Die Zeitverschwendung. Da müsste sein Chef sich schon gewaltig auf die Hosenbeine stellen, oder vielmehr auf die Hinterbeine, um einen Ausschlupf aus den schwergewichtigen Anklagen zu erstreiten.

Nach Feierabend, daheim, würde Dr. Brandstetter den unerhörten Vorgang der Frau in seinem Hause erzählen, ihr den Triumpf aufs Butterbrot schmieren und unter die Haut jubeln, damit sie mal von ihrem hohen Kamel herunterkam und Respekt herunterschlucken musste und ein Hohnlachen seinerseits nicht zu unterbinden mehr in der Lage wäre, so platt wäre sie, so darniedergeschmettert von der Wucht der Größe seiner Überlegenheit über bloße Rangordnungsvermessenheit.

Auftrumpfen!

Jawohl, auftrumpfen!

 

Schicksalsmelodie

Ins Kino wollte Dr. Brandstetter gehen, mit der ganzen Familie. In einem Kino hatte er auch die Frau kennengelernt, die mit ihm verheiratet war und die ihm zwei Kinder „geschenkt“ hatte, wie die Großeltern beiderseits zu betonen nicht müde wurden. Gut, dachte er, damals hatte er nicht gerade die glücklichste Stellschraube seines Lebens umgedreht. Es hätte besser kommen können. Zum Beispiel hätte er die Dame vor ihm ansprechen können, die mit der fransigen Frisur. Sie hätte sich umgedreht und ihm zugelacht, oder vielleicht nur zugenickt, was spielt das schon für eine Rolle. Denn letztlich wären sie zum Standesamt geschritten und hätten sich ihre Ja-Worte zugesichert. Ins Ausland wären sie gezogen, denn die Dame war ohne Zweifel Amerikanerin, davon konnten auch die Frisurfransen nicht ablenken. Dr. Brandstetter ließ sich nicht täuschen. Er bestellte vier Karten für eine Vorstellung eines 3-D-Filmes. Vielleicht setzte sich ja wieder eine fransenfrisurliche Dame in die Sitzreihe vor ihm. „Man kann die Schicksalsmelodie auf verschiedene Weisen anblasen“, sagte er zu seinem Buben.

„Ja, Papa“, sagte der Bub. Ein guter Junge.

 

Der Schauprozess

Seine Frau war kreischend aus dem Schlafzimmer gestürmt und hatte mit den Insignien von Ekel und Abscheu etwas in den Abfalleimer in der Küche fallen lassen. Soweit sei es schon gekommen mit der Verwahrlosung, hatte sie geschrien und dabei ihren ausgefransten Schlafrock zusammengerafft. Um den Kopf hatte sie ein Tuch geknotet, das noch vom letzten Grillabend nach Knoblauch und Bratenfett roch. Man müsse ihm den Prozess machen, wütete sie ihn an, am besten einen Schauprozess im Fernsehen bei dieser Gerichtssendung mit dem gnadenlosen Richter, damit er Zucht und Ordnung lerne. Was denn um Himmels Willen geschehen sei, um eine Verwahrlosung daraus abzuleiten, fragte Dr. Brandstetter gewissenhaft. „Haare“, rief sie, „Haare im Bett, Haare auf dem Teppich, Haare sogar in der Kommode mit den Socken.“ Dr. Brandstetter schwieg. „Männerhaare“, setzte sie nach.

Es stimmt, dachte Dr. Brandstetter, mir fallen die Haare aus. Er nahm seinen Regenschirm und verließ das Haus. Nur eine Straße weiter betrat er einen Frisiersalon. Dort würde das Problem gelöst werden.

Es ist eine Frage der Länge, sagte er zur Friseurin. Die Länge und das daraus resultierende Gewicht entscheiden darüber, ob das Haar durch Einwirkung der Schwerkraft sich vom Haupt löst, in die Socken fällt oder auf das Laken trudelt. Die Friseurin fragte, ob er einen Kaffee wünsche. Kaffee? dachte Dr. Brandstetter, hatte seine Frau eigentlich Haare im Kaffee erwähnt? Er warf den Umhang auf den Waschtisch. Die Nacht wirft ihre Schatten ab, dachte er in lyrischer Aufwallung.  Seine Frau hatte den entscheidenden Anklagepunkt verschlampt oder vergessen und somit den Schauprozess verloren.

 

 

 

Ein Mordskerl am Haken

Mit seinem Angelhobby machte sich Dr. Brandstetter bei seiner Familie nicht unbedingt beliebt. Die Badewanne hatte er für seine Köderfische requiriert. Einige schwammen träge in dem Becken, andere trieben tot an der Oberfläche. Am Wasserrand hatte sich ein grünlicher Dekorstreifen aus Dreck und organischen Ablagerungen abgesetzt. Es stank nach Fisch, Moder und verschwitzten Socken. Die Frau sagte schon seit langem nichts mehr dazu. Den beiden Kindern war sowieso alles egal, Hauptsache, sie wurden nicht bei den Computerspielen gestört. Wenn Dr. Brandstetter des Nachts von seinen Angeltouren zurückkam, war die Familie meistens schon schlafen gegangen. Den Fang musste er weit draußen vernichten oder in die Abfalltonne werfen, das hatte die Frau sich ausbedungen. Fisch kam nur freitags auf den Tisch, Pangasius vom Fischhändler. Immerhin, beim Abendbrot konnte Dr. Brandstetter seine Angelabenteuer loswerden, und dann lief er zu großer Form auf. Die anderen kauten und schielten mit verdrehtem Hals zum kleinen Fernseher droben auf dem Kühlschrank. "Einen kapitalen Hecht hatte ich gestern am Haken", berichtete er, während er Leberwurst auf das Brot strich, "über eine Stunde lang habe ich mit dem Mordskerl gekämpft. Ihr glaubt nicht, was für ein Drama sich da abgespielt hat." Die Frau griff zur Fernbedienung und stellte den Ton lauter.

 

Vier Kerzen

Zum Advent hatte die Frau einen Kranz aus Tannenzweigen gebunden. Dr. Brandstetter oblag es, die vier Kerzen zu besorgen. "Es müssen rote Kerzen sein", sagte die Frau,"und nimm nicht die billigen aus dem Ein-Euro-Laden. Die sind giftig."

"Man könnte den Buben damit beauftragen", erwiderte Dr. Brandstetter, "damit er mal was Ordentliches anstellt."

"Der Bub ist nicht im Haus", sagte die Frau.

"Dann eben die Tochter, die ist alt genug."

"Jessica muss für die Mathe-Prüfung büffeln."

Typisch, dachte Dr. Brandstetter, wenn man mal die Kinder braucht, verfallen sie auf unnütze Ausreden, deren jede durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Er warf sich die Windjacke über und verließ missgelaunt das Haus.

Die Straßenlaternen brannten schon, als er zurückkam. Kurz vor Ladenschluss hatte er noch ein halbes Pfund Edamer erstehen können. "Es war nicht ganz unproblematisch", rief er in Richtung Schlafzimmer, in das seine Frau sich zurückgezogen hatte.

"Dann steck' sie schon mal auf den Kranz", rief sie aus gedämpfter Kulisse zurück.

Sie wird immer seltsamer, dachte Dr. Brandstetter. Den Käse legte er in den Kühlschrank, so, wie es sich gehört.

 

Silvester

Der Bub begehrte auf. Er sei nicht das Familienschwein. "Na na na", sagte Dr. Brandstetter. Draußen mühte sich die Frau mit dem Schneeschieber ab. Sie keuchte schwer und schwitzte unter ihrer Pelzmütze, aber das konnte man vom Wohnzimmerfenster aus nicht sehen. Der Bub bockte weiterhin. Eigentlich hatte er den Schnee räumen sollen. Zum Jahreswechsel musste die Auffahrt für die zu erwartenden Gäste frei sein. Betrübt wandte sich Dr. Brandstetter vom Fenster ab. "Den Anblick kann man nicht ertragen", sagte er in Richtung seines Buben. Keine Antwort. Nur ein unrhythmisches Klacken. Der Bub hatte den Computer angestellt und guckte Facebook.

"Svenja hat einen neuen Freund", sagte der Bub.

Derweil hatte die Frau die Auffahrt freigeschaufelt. Ein noch dichterer Schneefall setzte ein, und sie langte erneut zum Schneeschieber. Dr. Brandstetter hob die Stimme, um das Geklacker der Tastatur zu übertönen. "Ich gehe jetzt nach oben und überprüfe die gelbe Krawatte. Ich glaube, sie muss gebügelt werden."

"Tu das", sagte der Bub.

Sogar darauf ist er hereingefallen, dachte Dr. Brandstetter, denn er besaß keine gelben Krawatten. Diese Leute in meinem Haus offenbaren ein grenzwertiges Sozialverhalten. Die eine schwitzt, wovon niemand Kenntnis erlangt, der andere ist dumm wie Kartoffelgrütze.

Dr. Brandstetter zündete eine Wunderkerze an und rief "Prost Neujahr!"

 

Anbrennen

Jessica hatte eine 5 in Mathe geschrieben. "Ich möchte wissen, woher sie das hat", sagte Dr. Brandstetter. Die Frau reagierte nicht. Sie machte sich am Herd zu schaffen. Zum Wochenende hatten sich ihre Eltern angesagt, da musste schon mal ein deftiger Schweinebraten in die Röhre geschoben werden. "Es ist eine Kunst für sich", kommentierte die Frau die Angelegenheit, wobei unklar blieb, was sie genau meinte: das Schreiben einer 5 in Mathe oder das Zubereiten eines Schweinebratens. Ein Schnaufen von der Eckbank der Küche verriet, dass dieses undezidierte Interpretationsszenario auf wenig Gegenliebe stieß.

In diesem Augenblick kam Jessica herein, im Schlepptau ihr neuer Freund Torben, der mit der Glatze, der Bomberjacke und den Kampfstiefeln. "Sie lässt auch gar nichts anbrennen", sagte Dr. Brandstetter, und er überlegte, ob er die Betonung des Satzes richtig gewählt hatte. Die Hervorhebung des Ausdrucks gar nichts schien ihm im Nachhinein pädagogisch anfechtbar. Gar nichts würde ja andeuten, dass er seine Tochter für ein ausgekochtes  Früchtchen hielt, für ein frühreifes Luder, das mit jedem Dahergelaufenen eine Mesalliance einging. Um es mal beschönigend zu umschreiben, dachte Dr. Brandstetter. Nein, die Betonung musste auf auch liegen, dann würde die Frau am Herd mit einbezogen und gleichzeitig hätte er eine Zweideutigkeit von subtiler Raffinesse in den Raum gestellt. Quasi zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte er. Laut sagte er: "Sie lässt auch gar nichts anbrennen, ich wiederhole auch gar nichts, Betonung auf auch."

Die Bomberjacke grunzte zustimmend. "Coole Ansage, Opa." Vom Herd kam ein zischendes Geräusch.

 

Das Schöne an sich

Ins Museum konnte die Kinder nichts bringen, keine verlockenden Anspielungen auf visuelle Entdeckungsreisen, keine Belohnungen, sei es eine in Aussicht gestellte Ferienfahrt ins Weserbergland, sei es ein Zoobesuch, sei es eine monetäre Zuwendung. "Das ist schon erstaunlich", sagte Dr. Brandstetter zu der Frau, "in Sonderheit, wenn man bedenkt, wie sehr sie dem Mammon und dem Konsum verfallen sind. Man erwähne gar nicht erst die Computersucht und die nichtsnutzige Art der Freizeitbeschäftigungen, die wir als Kinder als verabscheuenswürdig abgelehnt hätten, jedenfalls, wenn wir den Geboten der Eltern nachgekommen wären, und das wären wir schon aus Respekt, wenn ich mich recht erinnere." Ich verliere mich in Ressentiments, dachte Dr. Brandstetter. Die Frau stand in der Küche und bügelte seine Bürohemden, wobei sie in kurzen Abständen zu dem kleinen Fernseher auf der Borte hochblickte. "Ein einziger Museumsbesuch aber würde reichen", fuhr Dr. Brandstetter fort, "um ihre Augen zu öffnen für das Schöne an sich."

Der Bub kam atemlos aus dem Freien und verlangte Pommes, er habe Hunger, wieso noch nichts auf dem Tisch stände, er müsse noch die Hausarbeiten erledigen, die Telefonate abarbeiten, Verabredungen treffen, aber das würden die Herrschaften ja nicht begreifen, nur rumlabern und Vorwürfe.

Die Frau schaltete das Dampfbügeleisen aus und holte eine Packung Eingefrorenes aus der Kühltruhe.

"Schranke?" fragte sie.

"Mensch Mom, was denn sonst", patzte der Bub und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

"Schranke?" wandte sich Dr. Brandstetter an die Frau. Er sehnte sich nach dem Büro zu seiner Sekretärin Frau Grubolewski und dem Fotorahmen auf ihrem Schreibtisch mit dem Schnappschuss von ihren Enkeln, die gerade in den Matsch gefallen waren.

"Das bedeutet Pommes mit Ketchup und Mayo, rot-weiß eben, wie eine Schranke."

"Ich gehe jetzt in das Museum", sagte Dr. Brandstetter streng. Er würde sein Fahrrad aus dem Schuppen holen und ins Weserbergland radeln. Er bezweifelte, ob er es noch an diesem Tag schaffen würde. Alles war anders, Mom, Schranke, auch die Entfernungen. Und früher hatten wir plätten gesagt, schloss er seinen Gedankengang, plätten und nicht bügeln.

 

Ausgeschlossen

Der Schlüsselnotdienst musste kommen. Die Frau hatte den Haustürschlüssel von innen stecken lassen und die Tür hinter sich zugezogen. Nun standen beide fröstelnd in der Einfahrt und warteten. Sie verwahrte sich gegen jeden Vorwurf. Dr. Brandstetter sagte, er habe doch gar nichts gesagt. "Aber gedacht", sagte die Frau, "man sieht es an deinen herabgezogenen Mundwinkeln. So bist du."

"Ich hatte etwas unter der Zunge", sagte Dr. Brandstetter und schämte sich im gleichen Augenblick für den durchsichtigen Einwand. "Pah", sagte die Frau, "wenn du wenigstens etwas unternehmen würdest."

Dass er mit seinem Handy den Schlüsselnotdienst bestellt hatte, schien sie nicht für eine angemessene Vorgehensweise zu halten. "Ich kann ja versuchen, die Terrassentür aufzuhebeln", überlegte er laut, auch um der Frau zu beweisen, dass er sehr wohl etwas unternahm beziehungsweise eine zielführende Maßnahme in seine Überlegungen einbezog. "Allerdings", wandte er ein, "könnte die Terrassentür einen Schaden erleiden, wenn ich mit dem hilfsweise und zweckentfremdet eingesetzten Spaten eine Versuchsanordnung beschreite, die, wie mir scheint, keinen die Verhältnismäßigkeit berücksichtigenden  Erfolg verspricht, ein Schaden, der vermieden werden könnte, wenn wir geduldig auf den Schlüsselnotdienst warten und uns in dieser Angelegenheit dem Fachverstand des Schlüsselwerkers und seiner sicherlich professionellen Werkzeuge anvertrauen."

Die Frau schritt unwirsch zum Haus und rüttelte an dem Schlafzimmerfenster. Es öffnete sich, orientalisch klingende Flötentöne schallten heraus. Die beiden kletterten durch das Fenster ins Haus. Es war dunkel. Dr. Brandstetter fand sich nicht zurecht. Er konnte sich nicht erinnern, hier schon einmal gewesen zu sein. Wie heiß es war. Die Frau war sofort links in die tiefe Schwärze eingestiegen, verhaltenes Stimmengemurmel von dort, untermalt vom Rauschen eines Wasserfalls. Vorsichtig tastete Dr. Brandstetter sich an der Wand entlang, bis er auf eine Tür stieß. Sie gab nicht nach, und eine Klinke fehlte. Hinter der Tür regte sich etwas. Jemand klopfte an das Holz, ein Schlüsselbund klirrte. Vermutlich ist es der Mann vom Schlüsselnotdienst, dachte Dr. Brandstetter, er war wohl eingedrungen und suchte nach den Einwohnern. Die Person hinter der Tür stieß einen Fluch aus und begann dann in einer hohen Tonlage zu wimmern, ein Singsang in einer rauen fremden Sprache. Fast wie ein Eunuch, dachte Dr. Brandstetter. Das Wimmern ebbte ab und erstarb schließlich ganz . Dr. Brandstetter vernahm Schritte, das Gartentor quietschte.

Dann war Stille.

 

Dem Schicksal ein Schnippchen schlagen

Der Versicherungsvertreter, ein Herr Dominik, war ins Haus gekommen. Er hatte seinen Laptop auf den Küchentisch gestellt. Dr. Brandstetter vermutete dort die eingespeicherten Daten seiner Lebensumstände, auch die der Gesamtfamilie und die Aufstellung der wertvollen Güter. Deshalb überraschte es ihn ein wenig, als Herr Dominik fragte, wer alles zum Haushalt gehöre. "Na", sagte Dr. Brandstetter, "erst einmal bin ich ja als Haushaltsvorstand kaum zu übersehen."

"Und weiter?" fragte Herr Dominik.

"Weiter kann ich auf meine beiden Kinder verweisen, ein Bub und ein Mädchen, die Jessica."

Die Tasten des Laptops erzeugten klickende Geräusche.

"Und weiter?"

"Weiter ist hier noch die Frau ansässig."

"Die Frau?"

"Die Frau."

Der Versicherungsvertreter zog sein Smartphone aus einer der vielen Seitenschübe seines Aktenkoffers. "Wir müssen uns darüber im Klaren sein, wie wir die familiäre Situation in das Regelwerk der Formulare einbinden können, ohne auch nur den geringsten Anfangsverdacht über etwaige prekäre Praktiken aufkeimen zu lassen. Denn die gängigen Policen schließen Abweichungen aus, und ich fürchte, wir müssen angesichts der sich hier abzeichnenden Umstände eine weitaus höhere Schadensklasse einplanen, wenn wir trotz der unklaren Verantwortlichkeiten dem Schadensfall ein Schnippchen schlagen wollen." Er hatte, während er seine Befürchtungen formulierte, eine Nummer angewählt. "Nichtsdestoweniger", fuhr er fort, "werde ich der Geschäftszentrale den Fall erläutern und ihn absegnen lassen. Damit bewegen wir uns auf der absolut sicheren Seite."

Dr. Brandstetter stand vom Küchentisch auf. Oben rumorte der Bub ihn seinem Jugendzimmer. Krachende Rockmusik schallte durch die Decke. Jessica würde sich gleich mit ihrem neuesten Lover durch den Hinterausgang verdrücken. Und die Frau, die würde dem Herrn Dominik einen Bauchtanz vorführen. Das alles ging Dr. Brandstetter durch den Kopf, als er auf seinen Hometrainer stieg. Ein Rauschen schwoll von hinten heran. Es war die Meute der Rennfahrer, die an ihm vorbei raste und den Luftstrom erzeugte. Die geduckten Buckel stoben durch die Gasse verzückter Zuschauer. Dr. Brandstetter würde Mühe haben, den Pulk einzuholen, sich an die Spitze zu setzen. Aber es half nichts, seinem Schicksal konnte niemand den Mittelfinger zeigen.

 

Familienfoto

Der Bub benötigte ein Passfoto. Wegen des Schul- bzw. Skiurlaubs in die Dolomiten, den sein Klassenlehrer angekündigt hatte. Jeder habe einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuweisen, sonst fiele die Veranstaltung ins Wasser. Erst das Foto, dann der Antrag beim Einwohnermeldeamt. "Es geht alles seinen geregelten Gang", sagte Dr. Brandstetter zum Fotografen, "mal eben so ins Ausland, das ist nicht."

Der Bub verdrehte die Augen. Dr. Brandstetter hatte darauf bestanden, dass die ganze Familie beim Fototermin dabei war, damit jeder ein Passbild von sich mit nach Hause nehmen konnte.  Zusätzlich noch ein schönes Familienfoto. "So schlagen wir eine Fliege mit einer Schlappe."

"Zwei Fliegen mit einer Klappe", korrigierte die Frau.

Jessica hatte ihren Lover mitgeschleppt, der mit dem Hakenkreuz auf der Kutte. Der Bub schnitt jetzt Grimassen. "Wenn dich die Grenzer unbedingt einbuchten sollen, dann mach ruhig weiter so." Dr. Brandstetter fühlte eine Wut in sich aufsteigen. Erst in letzter Minute war die Frau erschienen, mit einen Turban, den sie um ihre noch nassen Haare gewickelt hatte. Kurz vor der Aufnahme, so hatte sie erklärt, würde sie den Turban abnehmen und in einem neuen Glanze aufscheinen.

"Zuerst machen wir das Familienfoto", rief Dr. Brandstetter zunehmend missgelaunt, und er klatschte in die Hände. Auf dieses Zeichen hin ruckelte der Fotograf den Studiokorbstuhl in die Mitte des Raumes und sagte, sie sollten sich wie von ungefähr um den Stuhl gruppieren, dann würde er gleichzeitig mit dem quasi Schnappschuss per Fernbedienung die indirekten Blitzlichter auslösen und die Familie in eine "anheimelnde Atmosphäre tauchen." Jessicas Lover hatte sich aber sofort in den Korbstuhl gefläzt und seine tätowierten Arme vorgestreckt mit zum Angriff geballten Fäusten, so, als wolle er den Fotografen bzw. den Betrachter des Bildes mit einer Rechts-Links-Kombination niederstrecken. Danach aufspringen und den fast schon leblosen Körper mit den Füßen traktieren, auf den Schädel springen, die metallbewehrten Spitzen seiner Springerstiefel in die Weichteile des Opfers treiben, dabei wüste Beschimpfungen ausstoßend.

Dr. Brandstetter war in eine schmutzige Seitengasse geflüchtet, das Handy hatte keinen Empfang, ein massiger Neger kam auf ihn zu und aus einem verbretterten Hintereingang klang ein schweres Keuchen. Es fängt schon zu Dunkeln an, dachte Dr. Brandstetter noch, die Tage werden kürzer.

 

Den Finger in die Wunde

Schicksalsmelodie

Der Schauprozess

Ein Mordskerl am Haken

Vier Kerzen

Silvester

Anbrennen

Das Schöne an sich

Ausgeschlossen

Dem Schicksal ein Schnippchen schlagen

Familienfoto

 

 

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