Hans Joachim Teschner

 

 

Ähnlichkeiten

Ein runder

Das Wichtige

Das Machtwort

Flugbahnen

Der Zwilling

Revision

Durch die Decke

Die Zeugenaussage

Ein gesundheitlicher Aspekt

Urlaub

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dr. Brandstetter

Das zweite Leben

VOL. 3

 

Ähnlichkeiten

Jessica saß allein vor dem Fernseher. "Wo ist denn dein famoser Lover, schlägt der gerade eine Rentnerin tot?" Dr. Brandstetter wollte nicht sarkastisch werden, der Tonfall war ihm ungewollt auf die Zunge geraten. Vermutlich hatte sich der Typ im Badezimmer eingeschlossen und tat etwas Ungesetzliches. 

"Ist weg", nörgelte Jessica, "du nervst." Sie nahm die Fernbedienung vom Tisch und zappte gelangweilt durch die Programme.

"Weg?" rief Dr. Brandstetter, "darf man hoffen auf ewig?"

"Die Hoffnung stirbt zuletzt."

Manchmal kriegt sie einen ganzen Satz zustande, dachte Dr. Brandstetter. Laut fragte er:

"Wohin denn?"

"Nach Hameln."

"Gute Wahl. Macht er dort eine Ausbildung als Rattenfänger?"

"Nee, Jugendknast. Wir sind auseinander."

"Man staunt, die Vernunft hat sich durchgesetzt."

Die Haustür wurde aufgestoßen und die Frau kam herein, im Schlepptau ein Individuum mit strähnigen Haaren, die wirr über sein pickliges Gesicht fielen. Eine amerikanische Militärparka mit Einschusslöchern hing an ihm herunter wie ein nasses Laken, und zwischen seinen Fingern glimmte unzweifelhaft ein Joint, der mit dem süßlichen Geruch des roten Libanesen die Wohnung kontaminierte.

"Das da bist du, leibhaftig", stieß die Frau hervor.

Angewidert musterte Dr. Brandstetter den Jungen. "Zugegeben", sagte er, "er sieht mir ähnlich, aber da war ich 18 Jahre alt. Was will die Knalltüte hier?"

"Die Knalltüte ist Jessicas neuer Lover. Man sagt, die Kinder suchen sich ihre Partner nach ihren Eltern aus. Ein Unglück."

Diese Frau, dachte Dr. Brandstetter verbittert, muss früher Jessica sehr ähnlich gewesen sein.

Er nahm den Telefonhörer ab und wählte das Jugendamt. 

 

Ein runder

Die Nachbarin Gundula Bakenhus von der gegenüberliegenden Straßenseite hatte ihren 60. Geburtstag angekündigt. "Ein runder", sagte Herr Klöpper. Sie standen sich am Gartenzaun gegenüber, drüben Herr Klöpper mit seiner Frau Martina, hier das Ehepaar Brandstetter. Martina nickte und fügte hinzu, dass Gundula sich gut gehalten habe, trotz ihrer Unterleibsgeschichte. "Alles ausgeräumt", sagte ihr Mann.

"Besser so, als wenn noch was nachbleibt", sagte die Frau neben Dr. Brandstetter und trat ihm heimlich auf den Fuß. Dies war das Zeichen, dass er es unterlassen sollte, seinen Maurerwitz zu erzählen. Dr. Brandstetter wandte sich an Martina und sagte: "Bei dem Stichwort Unterleibs-OP fällt mir der folgende Witz ein. Ein Maurer geht zum Arzt." Die Frau trat ihm nochmals auf den Fuß, diesmal so schmerzhaft, dass eine Unterbrechung des Witzes nicht zu vermeiden war.

Später, vor dem Zubettgehen, stülpte sich Dr. Brandstetter den Stereokopfhörer über die Ohren. Die Anlage war ausgestellt, das Kabel herausgezogen. "Ich höre noch eine Weile", sagte er und setzte sich in den Sessel. Die Frau starrte ihn an und schwieg. Das Hören dauerte bis in die Morgenstunden.

 

Das Wichtige

Jedenfalls konnte die Frau sich nicht über ausreichende Zuwendung beklagen. An den Wochenenden ging Dr. Brandstetter ihr zur Hand, ob es nun der Einkauf auf dem Markt war, die handwerkliche Ausübung von Reparaturarbeiten oder das Mähen des Rasens. Trotzdem schien die Frau missgelaunt zu sein, vor allem, wenn er sich in der Garage zu schaffen machte. Was er da wieder treibe, ob es nicht Wichtigeres zu tun gäbe. Was das Wichtigere denn sei, fragte er ohne sich von seiner schmalen Werkbank umzudrehen. Die Definition des  Wichtigen an sich sei keineswegs zufriedenstellend erörtert und abschließend postuliert worden, es läge praktisch noch in den Windeln. "Hier zum Beispiel", sagte Dr. Brandstetter, "entsteht unter dem Dach eines hierarchisch strukturierten Entwicklungsplans ein modulares Regalsystem, welches uns, und damit schließe ich Jessica und den Buben in meine Überlegungen ein, die Ablage diverser sperriger Güter des täglichen Gebrauchs um ein Vielfaches des Vorhergehenden erleichtern wird und Freiraum schaffen hilft für wichtigere Tätigkeiten, und damit wäre ich beim Eingangsproblem, nämlich die Frage nach dem Wichtigeren."

Schon bei seinen ersten Worten hatte die Frau das automatische Garagentor in Gang gesetzt. Die schwere Eisentür senkte sich lautlos herab. Draußen zupfte sich die Frau ein paar Fusseln aus ihrem Kaftan, drinnen verlor sich Dr. Brandstetter in Überlegungen über das Wichtige an sich.

 

Das Machtwort

Jessica wollte die Nacht auswärts verbringen, in der Disco und anschließend wollte sie mit der Clique noch zu einem Typen, „kennt ihr sowieso nicht.“ Dr. Brandstetter fragte sich, ob er sich mit der Erklärung zufrieden geben sollte oder ob ein Machtwort vonnöten wäre. „Das wird mal Zeit, die Göre erlaubt sich ja inzwischen alles“, sagte er zu der Frau. „Nun gib ihr schon den Wagenschlüssel“, sagte die Frau.

„Wie, was?“ rief Dr. Brandstetter, „sie will mit dem Wagen los? Ist sie überhaupt schon 18?“

Das sollte ein kleiner Scherz sein, aber er kam nicht gut an. Thore Gramberg, der derzeitige Lover sollte ja fahren. Jessica sprach allerdings nicht von ihrem Lover sondern von ihrem Kerl. Thore hatte ein Lippenpiercing und ein schlecht weggelasertes Hakenkreuz im Nacken. Dr. Brandstetter war ihm höflich begegnet, hatte ihn sogar zum Angeln eingeladen „auf Zander“, aber der Kerl hatte ihm seine schmutzige Pfote auf die Schulter gehauen und „Bleib sauber, Opa“ gegrunzt. Die Frau hatte weggeguckt. Jessica hatte an ihren Augenbrauen herumgezupft,  und der Bub war oben. Dr. Brandstetter hatte sich gedemütigt gefühlt. Wortlos hatte er sich die Jacke übergeworfen und war zu seinem monatlichen Stammtisch der Graduierten geradelt. Auf seinen derben Maurerwitz sollte die Runde diesmal vergeblich warten. „Ein Machtwort“, hatte er stattdessen hervorgestoßen, und die anderen hatten zustimmend genickt.

 

Flugbahnen

„Wir müssen sie herunterholen. Ich habe sie gesehen. Fliegende Menschen!“ Aufgeregt klopfte Dr. Brandstetter mit den Fingerknöcheln auf die Schreibtischplatte. Er war in die Polizeiwache gestürmt und hatte die höchste Alarmstufe ausgerufen. Es sei keine Zeit zu verlieren, sonst würden die fliegenden Menschen herabstürzen und sich die Knochen brechen, womöglich sogar das Rückgrat mit der Folge von Querschnittslähmung und lebenslanger Hilfebedürftigkeit. Der wachhabende Polizeibeamte hatte von seinem Computer aufgeblickt und die Augenbrauen zusammengezogen, wobei sich der Umfang seines kahlrasierten Schädels um einige Grad verringert hatte. Wie er heiße und woher er komme, fragte der Polizist, und als ob er die Veränderung seines Schädelumfanges überprüfen wollte, befingerte er seine Glatze. „Wie ich heiße?“ rief Dr. Brandstetter, „ja wo bin ich denn. Draußen trudeln Menschen in höchster Not durch die Wolken, und hier fragt man nach meinen Namen!“

„Zunächst“, beschied ihm der Polizist, „gebietet es die Vorschrift, dass wir die Personalien aufnehmen. Sonst könnte Krethi und Plethi hier auftauchen und die kostbare Zeit des Diensthabenden vergeuden mit dem angeblichen Vorfall von fliegenden Menschen. Weitaus wichtigere Ermittlungen würden dadurch zum Erliegen gebracht.“ Wohl um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen runzelte der Polizist zusätzlich zu den zusammengekniffenen Augenbrauen auch noch seine Stirn, was seinen Schädelumfang um eine weiteres Mal veringerte. Sein gesamter Oberschädel schien sich nach innen zu falten, ein Schrumpfvorgang, der bei Dr. Brandstetter einen üblen Verdacht auslöste. Konnte es sein, dass sich der Diensthabende aus der Verantwortung ziehen wollte, indem er zusammenschrumpelte, bis nichts mehr von ihm übrigblieb? Und so seiner Pflicht auswich, die ihm befahl, unverzüglich mit Blaulicht und Sirene zum Ort der Flugmenschen zu eilen?

Dr. Brandstetter wandte sich um und stolperte hinaus ins Freie. Die Wolken hatten sich verzogen. Verwirrt starrte er in alle Himmelsrichtungen, aber nirgendwo konnte er die Wolkenformation ausmachen, die ihm den Weg zu den fliegenden Menschen weisen konnte. Ihre Flugbahnen waren nicht mehr zu orten. Und drinnen, in der Wachstube, schrumpelte der Polizist, ohne sich einen Deut um die verloren gegangenen Flugmenschen zu kümmern.


Der Zwilling

Das Gerät schien intakt zu sein, entsprach aber nicht Dr. Brandstetters Vorstellungen. Er hatte an etwas Technisches gedacht, mit Zahnrädern, glimmenden Diodenlämpchen, Schaltern zum Drücken und Schieben, Drehreglern und diversen Buchsen, in die man genormte Stecker einführen konnte, um den Betrieb über Ringelkabel kontrollieren zu können, zum Beispiel mit Hilfe seiner alten E-Gitarre. Das Instrument, ein Überbleibsel aus der Zeit seiner wilden Jugend, musste noch irgendwo auf dem Dachboden liegen, wahrscheinlich in der Truhe mit den Comic-Heften und den zweiundzwanzig Karl-May-Bänden und seiner ersten Angel. Dr. Brandstetter konnte sich nicht mehr erinnern, was er da eigentlich im Internetshop bestellt hatte. Dieses Gerät vor ihm hatte eine Kurbel und einen beiliegenden Schlauch, den man vermutlich in die einzige Öffnung des Gerätes hineinschrauben sollte. Er entfaltete den Beipackzettel und sah sich die zwölf Abbildungen an, die den Ablauf des Zusammensetzens und der Inbetriebnahme des Geräts darstellten. Das letzte Bild zeigte einen verhärmten dürren Mann, der die Kurbel betätigte, worauf eine riesige schillernde Blase aus dem Schlauch stieg. Der dürre Mann hätte sein Zwillingsbruder sein können, wäre er nicht so dürr gewesen. Zwillinge, dachte Dr. Brandstetter befriedigt, Zwillinge gleichen sich nämlich sogar nach vielen Jahren des Getrenntseins wie ein Ei dem anderen. Hier aber sticht die Differenz der Leibesumfänge unserer Protagonisten geradezu schmerzhaft ins Auge des Beobachters. Erleichtert lehnte sich Dr. Brandstetter zurück und verlor sich in Erinnerungen an seine wilde Jugendzeit, wo er die E-Gitarre geschlagen hatte und die noch jungfräuliche Gundula Rosendorfer hinten im Brombeergebüsch bedrängt hatte, sehr zu ihrem Wohlgefallen, das musste schon noch hinzugefügt werden.

 

Revision

Am Donnerstag hatte die Filialbank bis 18 Uhr geöffnet. Dr. Brandstetter konnte nach Dienstschluss noch vorbeifahren und seine Finanzen regeln. Am ersten Schalter, hier nannten sie es Counter, wurde er an die Wertpapierabteilung verwiesen. Dort könne er sein Anliegen dem Wertpapierspezialisten vortragen, erklärte ihm der junge Mann, an dessen Revers ein Plastikschild mit dem Aufdruck 'Auszubildender' angeheftet war. Der Spezialist würde dann sein Kapital krisensicher und zinsträchtig anlegen.

In der Wertpapierabteilung erwartete ihn eine Frau in einem dunkelgrauen Hosenanzug. Sie behauptete, die Abteilungsleiterin zu sein und bat ihn, Platz zu nehmen. Dr. Brandstetter blieb stehen. „In diesem Institut“, rief er aufgebracht, „kann offensichtlich jeder irgendwelche Behauptungen aufstellen!“

Die Frau zupfte an ihrem Hemdkragen.

„Genauso gut könnte ich behaupten“, fuhr Dr. Brandstetter ungezügelt fort, „der Revisor zu sein, der aus der Hauptstelle hergeschickt wurde, um die Rechtschaffenheit des hier geschäftig tuenden Treibens auf das Katapult der Buchprüfung zu heben!“

„Katapult?“ fragte die Frau, und sie zupfte erneut an ihrem Hemdkragen.

„Ja Teufel auch“, entfuhr es Dr. Brandstetter unflätig, „zupfen sie nur am Kragen. Der wird ihnen noch eng werden, sehr eng, sehr sehr eng.“

Er beschloss, den Redefluss der angeblichen Abteilungsleiterin zu unterbrechen und sich den Kassenschalter vorzunehmen. Auf dem Weg dahin zog er seine Jacke aus und lockerte seine Krawatte. Es würde gleich heiß hergehen, und niemand würde ihn daran hindern können, diesen Saustall gründlich auszumisten. Resultate würden schließlich von der Hauptstelle erwartet, handfeste Resultate.

 

Durch die Decke

Auf dem Betriebsfest hatte Frau Grubolewski nicht nur die Tombola gewonnen. Einen Korb, gefüllt mit Mettwürsten, Marmeladengläsern und einer Flasche Pflaumenwein. Sie hatte auch noch ein paar Tänzchen mit dem Betriebsratsvorsitzenden Bernhard Bärwinckel aufs Parkett gelegt, unter den Anfeuerungsrufen und dem Beifall der schon arg bierseligen Abteilung Rechnungswesen und Controlling. Frivol, dachte Dr. Brandstetter, es artet aus wie noch jedesmal. Er hegte den Verdacht, dass seine Sekretärin schon vorher dem Alkohol zugesprochen hatte. Jetzt quietschte sie. Willig, dachte Dr. Brandstetter, sie offenbart ihre Willigkeit. Von einem der Nebentische, die mit blau-weißen Servietten geschmückt waren, fiel ein Humpen Bier zu Boden. Der Chef der Vertriebsabteilung schob eine Bratwurst in sein feistes Gesicht. Er ging schmatzend zur Musikkapelle und verlangte eine Polonaise. „Gleich fliegt die Decke hoch“, schrie er, und er schnappte sich die erstbeste Dame, um mit ihr durch die Decke zu fliegen. Es war Frau Grubolewski. Die Musik setzte ein, und alle Angestellten torkelten zur Tanzfläche. Auch Dr. Brandstetter hatte sich erhoben. Er flog als erster durch die Decke. Je höher er flog, desto leiser wurden die Geräusche drunten. Bis das Stampfen der Tanzenden völlig verebbte. Nur der Mond, der summte ein leises Lied.

 

Die Zeugenaussage

Es stank nach Zwiebeln und etwas Fischigem. Der Mann gegenüber hatte eine Papiertüte aus seiner Reisetasche gekramt, der er ein belegtes Baguettebrötchen entnommen hatte. Beim ersten Hineinbeißen war ein Zwiebelring auf die Tastatur seines Laptops gefallen. Das Zwiebelstück stak zwischen den Tasten K und L fest. Unbeholfen versuchte der Mann mit den Fingern seiner freien Hand, die Zwiebel wieder herauszufischen, wobei der Laptop auf seinen Knien zu schlingern anfing. Der Mann fluchte. Im Bahnabteil hatte sich der Geruch nach Zwiebeln und etwas Fischigem mit dem Knoblauchgeruch aus dem Mund des Mannes vermischt. Die Frau neben dem Mann erhob sich und verließ das Abteil. Dr. Brandstetter stand jetzt ebenfalls auf. Er langte nach oben zum Gepäcknetz, um seinen Koffer hervorzuziehen. Dabei stieß er an die Knie des Mannes mit der Tüte. Keiner sagte etwas. Doch, Dr. Brandstetter sagte etwas. Später erinnerte er sich nicht mehr genau an die Worte, die er an den Mann gerichtet hatte. Dem Bahnhofspolizisten konnte er aber die Geruchsaromen schildern, die die folgenschwere Aktion ausgelöst hatten. „Zwiebeln“, referierte er in der Bahnhofswache, „dazu etwas Fischiges, ein Hauch von Knoblauch, Gurken angereichert mit Essig und Joghurt, saurer Speichelsud, schwefelige Dämpfe und dann noch der faulige Odem der Verderbnis, geradewegs aus der Hölle herübergeweht.“ Er war stolz, eine genaue Tatbeschreibung geliefert zu haben, eine Aussage, angereichert mit einem kunstvollen Gebinde aus blumigen Redewendungen und phantasiereichen Metaphern.

Der Grund, der den Nothalt des Zuges ausgelöst hatte, war hinreichend beschrieben. Jedes weitere Wort war überflüssig. Dr. Brandstetter hatte ganze Arbeit geleistet.

 

Ein gesundheitlicher Aspekt

Im Keller seines Hauses hatte Dr. Brandstetter einen großen Plastikring gefunden, der früher einmal als Hula-Hoop-Reifen gute Dienste geleistet hatte. „Man muss sich das so vorstellen“, sagte er zu seiner Nachbarin am Gartenzaun, „der Reifen musste um die Hüften geschwungen werden in einer Art eigenständiger Drehbewegung, so dass er durch den zirkularen Antrieb zu einem permanenten Eiern um den Körper angeregt wurde. Niemals durfte der Reifen herunterfallen, dann war das Spiel verloren.“

Die Nachbarin, Frau Martina Klöpper, entgegnete, dass sie sich auf keinerlei Diskussionen einlassen würde, sie habe schon genug Ärger mit der Dachrinne. „Es hatte auch einen gesundheitlichen Aspekt“, erläuterte Dr. Brandstetter, „die Bewegung, verstehen Sie?“

Mit der Bewegung würde sie es nicht so genau nehmen, erwiderte Frau Klöpper, heute habe man ja schon mit dem Nordic Walking so seine Probleme.

Dr. Brandstetter befiel das Gefühl, mit seinem Hula-Hoop-Reifen eine falsche Lawine losgetreten zu haben. „Sozusagen“, sagte er laut, „eine Lawine kann ja wohl kaum mit dem Attribut falsch belegt werden, es sei denn, sie rollt in die falsche Richtung, nämlich den Berg hinauf.“

„Jetzt machen Sie aber mal halblang“, sagte Frau Klöpper. Sie ging kopfschüttelnd zurück in ihr Gartenhaus. Dr. Brandstetter legte sich den Hula-Hoop-Reifen um und begann, mit eiernden Bewegungen die Hüften zu schwingen. Der Reifen fiel zu Boden, und die Lawine hatte die falsche Richtung eingeschlagen.

 

Humor zeigen

Entgegen seiner Absicht, den Straßenmusiker mit einem 50-Cent-Stück zu belohnen, ließ Dr. Brandstetter sein Portemonnaie in der Tasche stecken und verwickelte stattdessen den Musiker in ein Gespräch. „Wie ich sehe“, sagte er, „spielen Sie auf einem Akkordeon deutscher Fabrikation.“ Der Akkordeonspieler schien ihn nicht zu verstehen. Er ließ die Tasten klappern und den Balg schnaufen. Andere Töne kamen nicht aus seinem Instrument. „Ein Knopfakkordeon“, fuhr Dr. Brandstetter fachmännisch fort, „das verlangt nach einem gehörigen Maß an Fingerfertigkeit. Die Klaviertastatur erscheint läppisch dagegen.“ Noch immer schien der Musiker nicht zu verstehen. Dr. Brandstetter kam der Verdacht, dass der angebliche Musiker taub war. Vielleicht war es nur ein Bettler, der da unverständig auf den Tasten klapperte. Dr. Brandstetter zog seine Brieftasche heraus, entnahm ihr einen 5-Euro-Schein und ließ diesen in den Kasten fallen. Humor hat er ja, dachte er, eine durchaus gelungene Strategie der Lebensbewältigung. Er nahm sich vor, in Zukunft auch Humor zu zeigen. Gleich drüben, in dem Musikladen an der Straßenecke, würde er sich ein Akkordeon deutscher Fabrikation kaufen.

 

Die Welt grinst

Dr. Brandstetter hatte seine Familie aus den Augen verloren. Er suchte die Menschenmenge ab, die sich zwischen den Verkaufsständen hindurchzwängte. Interessenten feilschten hie und da mit den Verkäufern, andere genehmigten sich ein Bier und eine Bratwurst. Der Flohmarkt war jedes Mal der Renner in der Stadt. Hier konnte man praktisch jede Familie antreffen. Bis auf die meinige, dachte Dr. Brandstetter, die hat sich wieder einmal in dem Gewühl verlaufen. Er beugte sich über einen mit Wollhandschuhen und Wollsocken überladenen Tapeziertisch. Hinter dem Wollberg hockte eine korpulente Frau, die an einer offenkundig für den Winter vorgesehenen Socke strickte. „Die kratzen nicht“, sagte sie ungefragt. Vermutlich, weil die Socken aussahen, als würden sie kratzen. „Dann nehme ich halbes Pfund“, sagte Dr. Brandstetter. Es sollte ein kleiner Scherz sein. Jetzt, wo seine Familie außer Sichtweite war, konnte er schon mal über die Strenge schlagen. Er gluckste vor Vergnügen, fühlte sich befreit, erleichtert, als ob eine Last von ihm abgefallen wäre. Wie unter Drogen, dachte er. „Und außerdem“, rief er der Wollfrau zu, „könnte es ruhig auch etwas mehr sein. Schließlich werden hinterher die Fische damit eingewickelt.“ Beschwingt wandte er sich ab und tänzelte von Stand zu Stand. Je öfter er seine Bestellungen aufgab, desto stärker schien die Droge ihre Wirkung zu entfalten, desto mehr zog es ihn, lustig gemeinte kleine Dummheiten an die Anbieter von Wollsocken, rostigen Gerätschaften, zerlesenen Büchern und geblümten Porzellantassen auszuteilen. Am Ende des Nachmittags landete er in einer Klinik, er konnte sich gar nicht erklären, wie er da hingekommen war, aber da hatte sich schon ein seliges Lächeln in sein Gesicht eingegraben, ein Lächeln, an dem jede profane Frage abprallte. Dem Bereitschaftsarzt gab er den Ratschlag, immer schön im zweiten Gang zu fahren und auf keinen Fall den Ballon steigen zu lassen, sonst würde das Ventil verstopfen. Nach seiner Entlassung, auf dem Nachhauseweg, erklärte er dem Taxifahrer, die Welt grinse verschlagen, sobald man ihr den Rücken zukehre. Er habe das Phänomen für einen kurzen Moment erhascht, vorhin beim Verlassen der Klinik. Die Fratze der verschlagen grinsenden Welt habe sich verräterisch in der Glastür widergespiegelt. Niemand sonst habe es bemerkt, und nun fürchte er um seine Glaubwürdigkeit, wenn sein Konterpart, und damit meine er sein Gegenüber, den Taxifahrer, dieses sein Geständnis, das einer Offenbarung gleichkäme, in die Welt hinausposaune, wie es ja das lose Mundwerk des Personen befördernden Gewerbes so mit sich brächte, man kenne das ja. Solches verbiete er sich uneingeschränkt und verweise auf die diesbezüglichen Paragraphen.

Nach dieser erschöpfenden Ermahnung versank Dr. Brandstetter in ein dumpfes Brüten. Die Droge hatte ihre Wirkung verloren. Ein kurzer Rausch, ein kurzes Glück, dachte er, und die Welt, die grinst verschlagen, sobald man ihr den Rücken zukehrt.


Ein Karton als Anlass

Der Paketbote hatte den Karton im Flur abgestellt. Er zückte ein elektronisches Gerät, tippte mit einem Stift ein paar Zahlen oder Zeichen darauf und reichte es Dr. Brandstetter. „Sie müssen hier unterschreiben.“

Die Frau kam aus der Küche und rief: „Ist es die Sendung mit den Blumenzwiebeln?“

„Das kann ich Ihnen nicht beantworten“, sagte der Paketbote.

Dr. Brandstetter, der den Stift und das elektronische Gerät in der Hand hielt, betrachtete den Karton genauer und sagte: „Diesen Karton habe ich nicht bestellt.“

„Aber adressiert ist die Sendung an Familie Brandstetter“, drängelte der Zusteller, „die Anschrift stimmt auch. Wenn Sie jetzt unterschreiben würden.“

„Wo soll ich unterschreiben, hier fehlt eine gepunktete Linie.“

„Auf dem Display, da unten.“

Die Frau schob sich zwischen die beiden. „Nun unterschreib schon, es sind die Blumenzwiebeln.“

In meinem Haus kann jeder Bewohner Bumenzwiebeln bestellen, dachte Dr. Brandstetter, und dann muss mit einem Stift auf einem Display unterschrieben werden, um das bevorstehende Streitgespräch über grundsätzliche Erwägungen einer solch diskussionswürdigen Bestellmaßnahme zu veranlassen.

Ungeduldig pochte der Zusteller auf seine Zustellertasche.

Der Stift rutschte über das glatte Display. Mit der normalen Unterschrift hatten die Striche nicht viel gemein. Dr. Brandstetter gab die Utensilien zurück und eröffnete das Streitgespräch.


Nahtoderfahrung

Dr. Brandstetter hatte ein Ticket für einen Vortrag über Nahtoderfahrungen erstanden und lauschte nun den Ausführungen des Redners. Der Redner, der sich als Nahtodexperte aufgrund eines selbst erfahrenen Nahtodes bezichtigte und unerbittlich darauf insistierte, dass kein Mensch jemals eine Nahtoderfahrung nachempfinden könne, der nicht selbst einem Nahtod ins ewige Antlitz geschaut habe, dieser Redner äußerte sich verächtlich über die Behauptungen anderer Nahtoderfahrenhabenden. Angeblich wären sie ja durch eine Röhre oder einen dunklen Tunnel geglitten, an dessen Ende ein gleißendes Licht aufgeschienen sei. Das alles sei Unfug, rief der Nahtodexperte aufgebracht ins Publikum, er jedenfalls habe keine Röhre erblickt bei seiner Nahtoderfahrung und auch kein Licht am Ende der Röhre, die ja, wie er gerade vorgebracht habe, sowieso nicht vorhanden gewesen sei, und deshalb sei auch das Röhrenfernlicht per Kausalschluss wegen des Nichtvorhandenseins...

Hier verhaspelte sich der Nahtoderfahrungsreferent. Er griff zum Wasserglas und nahm einen kleinen, vorsichtigen Schluck, so, als misstraue er der Flüssigkeit, die sich als Wasser ausgab, möglicherweise aber ein mit K.o.-Tropfen versetztes Sedativum war, das die hinterrücks agierende Nahtoderfahrungsmafia ihm untergschoben hatte. Der Redner keuchte. Ein matt glänzender Tropfen kroch aus seiner Nase. Der Tropfen musste entfernt werden. Ein Kleenex wurde gezückt und umständlich entfaltet. Dr. Brandstetter ergriff die Gelegenheit, eine sich ihm aufdrängende Frage zu stellen.

»Welcher Umstand, werter Herr Redner«, rief er akkurat, »hat Sie zu der Überzeugung gebracht, einer Nahtoderfahrung beizuwohnen trotz der Abwesenheit einer Röhre mit dem imaginären Licht am Ende des Tunnels?«

Der Redner blickte unwirsch in das Publikum, um den ungehörigen Fragesteller zu maßregeln. »Keiner«, spie er zornbebend aus, »keiner wird mir jemals die Nahtoderfahrung in Abrede stellen, der nicht selber...«

Dr. Brandstetter stand auf und stapfte zum Eingang. 'Die Welt dreht sich im Kreise', dachte er, 'sie verschlingt sich von hinten nach vorn.' Er wandte sich an den Kassierer, kaufte ein Ticket für die angekündigte Nahtoderfahrungsveranstaltung und schlängelte sich zurück durch die schon dicht besetzten Stuhlreihen zu seinem Platz.

 

Die Überraschung

Die Frau musste noch bedacht werden. Für Jessica und den Buben hatte Dr. Brandstetter schon die Weihnachtsgeschenke im Sack. Tablet PC für den Buben, iPhone für Jessica, die ihr Smartphone beim Sportunterricht hatte liegen lassen. War weg. »Kann ich doch nichts für«, schnodderte die junge Dame. Sie hielt es nicht für nötig, die Umstände zu erläutern, die dazu geführt hatten, dass sie nichts für konnte. Schimpfen nützte wenig, dann flippte sie aus. »Du bist natürlich unfehlbar und machst alles richtig«, ätzte sie, und der unfehlbare Dr. Brandstetter spürte, wie es ihm heiß hoch kam. Das Geschenk! Das Weihnachtsgeschenk für die Frau! Wenn es nur wüsste, was sie so... Fragen konnte er sie nicht, sie würde sich beleidigt in die Schlafzimmerzone zurückziehen. Nachfragen würde ja bedeuten, ja beweisen, dass er sich nicht für ihre Wünsche interessiert hatte, noch nie hatte er das, aber wem sagt man das, überflüssige Mühe, stattdessen beschäftigt sich der Herr mit seinen Verschwörungstheorien. Mit seiner Angelei. Mit seinem Debattierklub, dem Stammtisch der Graduierten. Ha!

Diesmal wollte Dr. Brandstetter es anders machen. Eine Überraschung sollte es werden. Auf's Geratewohl betrat er ein Geschäft in einer Nebenstraße. »Ein Geschenk«, sagte er zu der Verkäuferin, »für die Frau. Etwas Frauliches eben, sie wissen schon.« Die Verkäuferin sah ihn verständnislos an. Eine Ausländerin vielleicht. »Ist Ihnen nicht kalt?«fragte er sie. Sie zupfte an ihrem Bikinioberteil, dreht sich um und verschwand in einem Hinterzimmer. Dr. Brandstetter sah sich um. »Dies ist der falsche Laden!« rief er in Richtung Hinterzimmer. Er nahm ein Gummibärchen aus dem Glas, das auf dem Tresen stand. Im Hinterzimmer plätscherte es. Als ob die Verkäuferin ihre Füße unter einen Wasserstrahl hielte. Das Gummibärchen rutschte glibberig durch Dr. Brandstetters Speiseröhre. Da schon nichts anderes da war, nahm er noch eine Handvoll aus dem Glas. Die Frau würde sein Geschenk verächtlich ignorieren. Wie jedes Mal, wenn das heilige Fest in ihrem Wohnzimmer abbrannte.

 

Laufruhe

»Hören Sie den Motor?« fragte der Autoverkäufer, dem Namensschild nach ein Herr Malte Brakenhoff. Wahrheitsgemäß antwortete Dr. Brandstetter, dass er den Motor nicht höre. »Sehen Sie«, triumphierte Herr Brakenhoff, »das nenne ich Laufruhe. Man könnte versucht sein, aus dem fahrenden Wagen zu steigen, so ruhig läuft der Motor. Keine Vibrationen. Kein Brummen. Kein rein Garnichts.«

Als sie die Probefahrt beendet hatten, bedankte sich Dr. Brandstetter und versicherte, er werde noch lange über die Laufruhe des Motors nachdenken. »Mit der Laufruhe haben Sie eine bislang unbekannte Seite meines Wesens geöffnet.«

»Kein Ursache«, sagte der Autoverkäufer, und sie trennten sich in aller Freundschaft. Im Hinausgehen dachte Dr. Brandstetter, dass es heutzutage üblich sei, sich in aller Freundschaft zu trennen. Denn dadurch würden den Scheidungskindern Trennungstraumata und sonstige seelische Verletzungen erspart bleiben. Das moderne Leben hat eben auch sein Gutes.

 

Die Tombola

Dr. Brandstetter und seine Arbeitskollegen schauten neugierig um sich. Zur alljährlichen Tombola kurz vor dem Weihnachtsfest hatte die Muttergesellschaft aus Berlin einen Container voll mit Werbegeschenken geschickt. Die Werbegeschenke kamen wiederum von anderen Firmen, die teils als Zulieferer, teils als Kunden mit dem Unternehmen verbunden waren. Für die Feier war die Versandhalle geräumt worden. In der Mitte, auf einem Podest, lagerten die Geschenke, drumherum die Belegschaft. Dr. Brandstetter hatte bereits ein Auge auf die Magnumflasche Sekt geworfen. Damit könnte er zu Silvester eine Sause steigen lassen. Die Losnummern wurden aufgerufen, und die Sektflasche bekam Dr. Halveslage vom Vertrieb. Alle klatschten.

Dr. Brandstetter stand auf, guckte auf sein Los und rief: »Einundachtzig!« Die Mitarbeiter machten Aah, einige machten Ooh. Ein Schreibset wurde aus dem Haufen gezogen. »Ein Kugelschreiber!« rief einer. »Ein Füllfederhalter!« rief ein anderer. »Und ein Bleistift!« rief Dr. Halveslage. 'Damit werde ich Eure Kündigungen unterschreiben', dachte Dr. Brandstetter grimmig. Im Verlauf des Abends versuchte er, sein Schreibset umzutauschen. Ohne Erfolg.

Zu Hause berichtete Dr. Brandstetter von einer gelungenen Tombola. Das Schreibset schenkte er seinem Buben. Damit er mal war Ordentliches lerne, sagte er zerstreut, und den Lohn der Arbeit einfahre. »So wie du«, erwiderte der Bub.

'Ja', dachte Dr. Brandstetter, 'man muss nur ein gutes Vorbild abgeben, dann erübrigt sich die ganze Erziehung.'

 

Der Feuerschlucker

Auf dem Marktplatz hatte sich ein Feuerschlucker aufgestellt, um seine Kunst vorzuführen. Er schluckte aber kein Feuer sondern eine Flüssigkeit, die er aus einer Flasche einnahm. Die Zuschauer, die allmählich den Feuerschlucker umstellten, konnte nicht genau erkennen, ob er die Flüssigkeit tatsächlich hinunterschluckte. Natürlich war den Zuschauern klar, dass er die Flüssigkeit nicht zum Hinunterschlucken einnahm sondern zum Wiederausspeien, dann aber in Form einer Feuerflamme. Genaus dies machte der Feuerschlucker. Er blies einen kräftigen Feuerstrahl in die Luft. Dafür bekam er Beifall. Nun hob der Feuerschlucker eine Stange aus seinem Sortiment. An den Enden der Stange klebten Klumpen, die der Feuerschlucker anzündete. Sie brannten schön gleichmäßig. Der Feuerschlucker versetzte die Stange in eine schnelle Drehung, so dass die Illusion eines Feuerreifens entstand. Zusätzlich ein zischender Feuerstoß aus dem Munde des Feuerschluckers. Die Leute applaudierten.

Oben, im vierten Stock des angrenzenden Bürohochhauses, hinter einer breitflächigen Scheibe, stand Dr. Brandstetter. Er winkte und klatschte in die Hände. Aber niemand schaute zu ihm hoch.

 

Die Übergabe des Herings am Gartenzaun

Die Frau hatte einen Hering eingelegt. »Selbst eingelegt schmeckt am besten«, sagte sie. Dr. Brandstetter wurde angewiesen, das Glas mit dem eingelegten Hering zur Nachbarin zu bringen. »Martina kann es gut gebrauchen, jetzt, wo sie den ganzen Ärger am Hals hat.« Martina Klöpper – Dr. Brandstetter nannte sie immer nur die Klöppersche – hatte sich von ihrem Mann getrennt und musste ihre beiden Kinder allein durchbringen. »Das ist ein Los, das ich nicht teilen möchte«, sagte die Frau, »aber so sind die Männer.« Dr. Brandstetter nahm das Glas und stapfte über den Rasen. Am Gartenzaun rief er mehrmals den Namen Martina, der ihm fremd vorkam, lieber hätte er gerufen »Klöppersche, komm' mal her.« Er sah aber die Klöppersche heraneilen, bevor er Maßnahmen ergreifen konnte, seinen Appell umzuformen. »Hier ist ein Glas mit selbst eingelegtem Hering. Die Frau lässt grüßen und ob sie vom Supermarkt etwas mitbringen soll.«

»Ach, das ist nicht nötig. Mein Mann hilft mir ja. Wir haben uns ausgesprochen. Jetzt sind wir wieder eine glückliche Familie.«

»So«, sagte Dr. Brandstetter.

»Ja«, antwortete Martina Klöpper, »dass ich ihn hinausgeworfen hatte, war Folge unserer unzulänglichen Kommunikation, das jedenfalls meinte die Familientherapeutin.« Sie nahm den Hering in Empfang und wandte sich zum Gehen. Drüben, auf der Terrasse wartete schon ihr Mann. Er winkte. Dr. Brandstetter winkte zurück. Nachher würde die Frau in seinem Haus behaupten, sie habe schon immer gewusst, was für eine das wäre. Für solche Leute würde sie keinen Hering mehr einlegen.

 

Auf Sieg gesetzt

»Der Trick dabei ist, antizyklisch zu agieren«, belehrte Dr. Brandstetter die Frau, die sich daraufhin wortlos umdrehte und einfach wegging. 'Vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt', dachte er, 'und sie betrachtet meine Aussage als Angriff auf ihre Integrität. Oder sogar als Beleidigung. Wer weiß.'

Dabei hatte er nur begründen wollen, warum er fast ihr ganzes Bankguthaben in Aktien eines Unternehmens gesteckt hatte, das Mobiltelefone herstellte. Die Aktie hatte letzte Woche einen starken Kursverfall hinnehmen müssen. Zwei Werke sollten geschlossen werden, und der Rest der Produktion sollte nach Ossetien verlegt werden.

Dr. Haberstreu, der Leiter des Vertriebs und heimlicher Gegner in seiner Firma, hatte dagegen auf Chemie gesetzt. Das wusste Dr. Brandstetter. Alle in der Firma wussten es. Sie wussten auch über ihre heimliche Feindschaft Bescheid. Insofern waren es nur die beiden Kontrahenten, die ihre Feindschaft als heimlich ansahen. Wie auch immer, sie standen sich mit gekreuzten Klingen gegenüber, er oder ich, für Kompromisse war kein Platz.

Eine Tür schlug zu, die Hintertür. Die Frau würde mit Dr. Haberstreu tanzen gehen, da war sich Dr. Brandstetter sicher. 'Frauen', dachte er, 'schlagen sich auf die Seite der Gewinner, aber ich werde den Vertriebsleiter zerschmettern, werde nach dem zu erwartenden Kursfeuerwerk des Handyunternehmens seine Leiche über Bord werfen, die Segel hissen und mit der reuevoll zurückgekehrten Frau über die Meere ziehen ins Ungewisse, das wohl, aber ein Börsenhai kennt weder Skrupel noch Furcht.' Dr. Brandstetter formte seine Hände zum Schalltrichter, hielt sie wie ein Megaphon vor den Mund und rief der entkommenen Frau hinterher: »Und dann wird ein zweites Mal geheiratet. Diesmal unter den Palmen des Glücks.«

 

Urlaub

Den ersten Urlaub ohne die Kinder verbrachten Dr. Brandstetter und die Frau in Tunesien. »Im Grunde«, sagte er nach einem Tag in der Ferienanlage, »im Grunde sind wir nirgendwo und überall.« Die Frau hatte sich ihren Gesamtkörper mit Sonnenöl eingerieben, und nun beabsichtigte sie den präparierten Gesamtkörper an den Rand des Pools zu platzieren, um auf ihrer Haut die Urlaubsbräune reifen zu lassen, die sie ihren Freundinnen zuhause vorzuführen gedachte im Rahmen einer Tupper- oder einer Dessousparty.

»Was du immer zu meckern hast«, sagte sie.

»Ich konstatiere nur«, belehrte Dr. Brandstetter das Gesamtkörperpaket, »dass, egal ob wir in Costa Rica, in Südspanien oder in Marokko urlauben, die äußeren Umstände die gleichen sind und man zwangsläufig auf die Idee kommen muss, dass man womöglich gar nicht in Portugal ist, sondern auf Kreta. Nirgendwo und überall, ein ikonographisches Muster für das Ewige im Gleichen.«

Die Frau lag schon längst auf ihrer Liege, und weder sie noch die anderen präparierten Gesamtkörper rund um den Pool kamen zwangsläufig auf die Idee eines ikonographischen Musters des Ewigen im Gleichen.


Humor zeigen

Die Welt grinst

Ein Karton als Anlass

Nahtoderfahrung

Die Überraschung

Laufruhe

Die Tombola

Der Feuerschlucker

Die Übergabe des Herings am Gartenzaun

Auf Sieg gesetzt

Vol. 1          Vol. 2          Vol. 4

 

Lesesaal