Hans Joachim Teschners

 

Lebens-Quark 6

 

 


 

 

 

 

Ein junger Mann, gemeldet in der Lessingstr. 25, pflegt die tägliche Angewohnheit, seine Wohnung gegen Mitternacht zu verlassen, für eine Zigarettenpause, für ein Schnäppchen Luft. Er wähnt sich sicher, dass zu dieser Nachtzeit sein Telefon stumm bleibt. Sollte jetzt überhaupt jemand anrufen, dann nur, um eine Pizza zu bestellen, denn der Anrufer hat die falsche Nummer gewählt und entschuldigt sich nicht für sein Versehen, sondern schimpft auf die Telefongesellschaft, die es nicht schafft, einen einfachen Pizzaauftrag fehlerlos durchzustellen.

Unser  junger Mann nennt sich Elias Pseudo alias McTeshy, und wir ahnen schon, um wen es sich handelt. Wenn Freunde ihn anrufen, fragen sie nach einem Elli oder auch Turbo-Elli. Dann erglimmt der junge Mann in räudiger Raserei. Elli? Er will nicht Elli genannt werden. Elli ist ein Mädchenname, röhrt er bronchial und ohne Gegenbeweis. Mit der Geste eines vom Leben und von den Menschen schwer Enttäuschten wirft er den Hörer auf die Gabel, aber das Telefon besitzt gar keine Gabel sondern eine rote Taste zum Ausstellen, und deshalb wirft Elias den Hörer in eine Zimmerecke. Das Display zerbricht, die Verbindung ist unterbrochen, nicht jedoch dieser Satz, der als letzter vorzutragender Satz erst unterbrochen wird, wenn er in die Zimmerecke geworfen wird, und das kann dauern.

 

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Zwischen den Jahren 1979 und 1981 brach ich mit Erfolg eine meiner Studien ab, es war irgendwas mit Design oder Kanalisation, mehr wusste ich auch nicht. Zwischendurch hatte ich als freelancer einige Aufträge des Trendmagazins „Mondänes Wohnen“ abgearbeitet (s. Quark 2). Mit dem Honorar hätte ich das nächste semesterfette Studium finanzieren können, aber daraus wurde nichts. Denn der Durchsatz meiner Ideen sowie die Bedienung eines Mashallturms (200 Watt) bescherte mir ein tinniturales Ohrensausen (s. Quark 1), das nur durch Einnahme geistiger Getränke zu besänftigen war. Diese wiederum bescherten mir ein Feuerwerk an Einfällen, deren Verwirklichung nicht adäquat zu materialisieren war. Tatsächlich erwuchs daraus nur ein metastasierendes Durcheinander.

 Ab dem Jahr 1985 legte ich mir deshalb mehrere Pseudonyme zu, ein Verfahren, um die ausufernden Halden meines kreativen Outputs – Fotostrecken, Kollateral-Kompositionen, Flatterzungenlyrik, ontologisches Gemüse, Kausalvideos und weitaus Entlegeneres – zu kanalisieren, sie einem jeweils anderen Chiffre resp. Urheber zuzuweisen. Kaum in die Medienlandschaft gesetzt, rief die Codierung gepaart mit den Elaboraten eine um sich greifende, ja geradezu sektiererische Deutungsmanie hervor, eine Sucht, an deren Ende die öffentlich zelebrierte Selbstverspeisung stand. Warum das irgendeinen Sinn machen sollte, wurde nicht nachgefragt. Zur Zeremonie gehörte, dass man hierbei meine Decknamen in umgekehrter Reihenfolge vortrug.

Ich hielt das für unangemessen.

Dann der nächste Knall: Mit der Erfindung des Videoformats mytube generierte ich die Möglichkeit weltweiter Verschweinung und Entgeistigung und warf somit die Schatten des Web 2 in die nahe Zukunft. Ein Geniestreich. In der Folge parasitärten amerikanische Campushirsche meine Idee und oktroyierten dem follends ferblödenden Fun- und Fusselfolk angeschimmelte Billigderivate als da sind myface, spacebook, twitterVZ, blogcastings, pods, chatrooms und wie das entgleisende Communitygeblubber noch alles blähmäulig lob- und wichtiggehudelt wird.    

Das hatte ich nicht voraussehen können.

Nein, wir betrachten an deren statt das Original, jene zwei Videos, die den Hype auslösten:

 

„Gib Zunge“ Slow Motion Number One

Dieses Video zeigt den minutiösen Hergang eines abscheulichen Verbrechens vor den Toren Roms: Der italienische „Dottore“ Berlusconi, festlich aufgeputzt mit nacktem Genital, Latexsocken und gefesselten Augen, steckt seinen indice (Zeigefinger) in die Körperöffnung eines lebenden Wesens, um dessen lingua (Zunge) herauszubohren. Das lebende Wesen, adrenalisiert vor Schock, schlingt seine malalingua (böse Zunge) würgend um den indice, entlädt ein ferkelhaftiges Gequieke und erstickt an der eigenen lingua, ein tagelanger Todeskampf, währenddessen der „Dottore“ ihm wieder und wieder den indice gibt.

„Gib Zunge“ lässt sich deuten als die Urform menschlicher Bedeutungslosigkeit, die ihre Grenzen dort erfährt, wo der Videoplayer dem bunten Treiben Einhalt gebietet.

Das Video läuft extrem langsam ab. Ein Zufallsgenerator aktiviert das jeweils folgende Bild in Zeitabständen, die zwischen 20 Sekunden und 82 Stunden liegen. Wer lange genug wartet, wird des Entsetzens anteilig und gewiss.

 

Latexsocken, nacktes Genital  

 

Lustmord, Zungenkuss

 

 

„Gib Zunge“ Fast Motion Number Three

Das Video zeigt einen grauenhaften Lustmord aus der Sowjetzeit: Stalin gibt einem unbekannten Russen (Igor Gontschakow) den Zungenkuss. Igor läuft blau an und erstickt jämmerlich, ein tagelanger Todeskampf, währenddessen Stalin ihm intermittierend die Zunge gibt.

„Gib Zunge“ wird zur Metapher der Entfremdung (Marx), zum Gemeinplatz des schnöden Schlamms (Groucho) resp. blöden Schleims (Sloterdijk).

Das Video läuft extrem schnell ab. So schnell, dass das menschliche Auge der Bewegung nicht mehr folgen kann. Der Betrachter glaubt ein Standbild zu sehen, ein Irrtum wie zum Beweis, wozu die Realität unfähig ist.

 

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Der Urgroßvater eines jungen Mannes namens Jerry McTeshy, wohnhaft Lessingstr. 25, erwähnte in einem seiner Feldpostbriefe einmal seinen Unmut über die „galoschenhafte Dackelei“ und „Gschpusigkeit“ im Gebaren seines Rittmeisters, dem „Bürzelbaron vom Geiste derer, die der Vakanz die Sporen geben“. Der Brief war an seine damalige Verlobte Elsbeth Eisleben gerichtet, die sich allerdings nicht erinnern konnte, je mit einem derart schwurbelschwallenden Urgroßvater in die Verlobung noch in eine ihr gleichgestellte Verbindung eingegangen zu sein. So zerriss sie den Gilbfetzen in noch kleinere desselben.

Monate später kam die Eisleben Elsbeth mit der Großmutter des Jerry McTeshy danieder, nach eher zufällig eingeleiteter Trächtigkeit, woraufhin sie keine weiteren Anstrengungen nachkommenschaftlicher Plackerei und Liebesfron unternahm, ja, nach dem Abendabwasch glitt sie unverrichtet sowie auch mitteilungslos in die Verewigung dahin bzw. hinforten.

Wohingegen der besagte Urgroßvater krachfidel eine Friderike Schuster ehelichte, deren Kinder sich mütterlicherseits und aus Gründen der nachhaltigen Absicherung mit ihren eigenen Söhnen in das Beamtentum verflüchtigten, ja katabolisch verdampften.

Hier, in den brummenden und summenden Dämmerstuben einer Finanzbehörde, verliert sich die Spur. Erbfolge als auch stammesgeschichtlicher Baum bleiben ungeklärt.

 

 

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