Hans Joachim Teschners

 

Lebens-Quark 19

 

 


 

 

Die Engagements als Theatermucker veranlassten mich, gemeinsam mit Rita (Gartenstr. 34, 2. Stock) und ihrem Macker Karl-Heinz in die Seifenblasen des SchaumSchauspiels und der Bühnen einzutauchen. Es muss schon in den 80er Jahren gewesen sein, als ich unter der Stellenbeschreibung Klimperer auf Bühne und im Orchestergraben einschlägige Erfahrungen sammeln konnte. In der funktionalen und kostümierten Einkleidung als Gitarrist, Flötist, Balalaikist, Bassgitarrist, Banjoist und sogar Ausrufer von Schweigeminuten durchlitt ich jeweils 20-bis 35fache Aufführungen von Cabaret, Revuen allen Unrats, halbmoderne Opern, Weihnachtsmärchen, Musicals und immer wieder die brechtschen Oberschul-, Lehr- und Anwiderstücke à la Dreigroschenoper, Herr Puntila und sein Knecht Matti und was das Erbauungsprogramm des Bessermenschen sonst noch hergibt.

Aber soweit ist es noch nicht, wir rudern zurück zu meinen ersten Engagements im Schauspielhaus, als ich mich, wie übrigens die gesamte Schauspielermischpoke die ich kennenlernte, über das Vehikel Theater als kolossal bedeutend zu betrachten begann, ja unverzichtbar für die Gesellschaft, mich als Mittelpunkt überhaupt dieser Welt ansah. Überstiegen doch allein die Subventionen und die Verschwendungen der Spielstätten alle meine bisherigen Vorstellungen von sachgerechten bzw. der Leistung angemessenen Zuwendungen.

Der Unterschied zu meinen bisherigen Verhältnissen stach mir wie eine hundertpfeifige Stalin Hummelorgel ins Bregenrevier. Bisher hatte ich für ein abendfüllendes Konzertprogramm mit hochartifizieller Rockmusik mehrere Monate Übungsplackerei in versifften und teuer bezahlten Kellern zubringen müssen, mich mit dem Schlagzeuger geprügelt, Ouzo- und Gyrosschäden klaglos weggesteckt, nicht zu reden von den Kosten für Unterkunft, Bambus, Bandbus, Instrumente, Plakate, Studiomiete, Infos und Demokassetten. Dann die  Auftritte gegen Kasse minus Gema-Gebühren. Der Stundenlohn dürfte bei einem bis zwei Pfennige betragen haben, sofern oberhalb der Nachweisgrenze. In den hiesigen Zeiten des Euro müsste ein Centstück zerhackt werden, um die Gagen gerecht aufteilen zu können.

Im Staatstheater dagegen eitel Saus und Braus. Egomanisch stolzierende Schauspieler mit der Attitüde von gekränkten und zu kurz gekommenen Jahrhundertgenies. Garantierte Honorare sogar für die Probenarbeit, ein für mich völlig unerwartetes Zusatzeinkommen, von dem ich mir endlich ein höherwertiges Arbeitsgerät (Konzertgitarre) kaufen konnte. Und dann noch das groß- resp. bildungsbürgerliche Geronto-Publikum mit dem Studienratgehabe, die Hintern passgenau in die gepolsterten Stühle eingepökelt. Waren das nicht die Leute, die ihre Kinder vor unseren Rockkonzerten warnten?

 

Gerade vermeldet mein Fax die Hereinkunft neuer Nachrichten über Dr. Brandstetter. Danach geht's weiter.

 

 

  DR. BRANDSTETTER 
 






 

 

Die Frau in seinem Haus

 

Die Frau schlief sogar in seinem Bett. Sie hatte es sich auf der rechten Seite des feudal ausgestatteten Ehebettes eingerichtet. Meistens schlief sie mit offenem Mund, dann schnarchte sie. Um die Frau heimlich zu beobachten hatte Dr. Brandstetter seinen Rasierspiegel oben an dem Baldachin befestigt. Wenn sie zur Tür hereinkam, stellte er sich schlafend, horchte auf die Geräusche, auf das Rascheln von Tuch oder Seide, auf das Klicken des Lampenschalters, und dann blinzelte er vorsichtig mit einem Auge, warf einen verstohlenen Blick auf den Spiegel in der Furcht, sie könne es ihm gleichtun und ebenfalls in den Spiegel blicken, und so verharrte er starr und still, ließ das Bild der schnarchenden Frau tiefer und tiefer in sich eindringen, bis er selbst vor Erschöpfung in den Schlaf sank.

Am Frühstückstisch sah er die Frau wieder. Sie tat, als ob sie hierher gehörte. Seine beiden Kinder redeten sie mit Mutter an, so sind eben Kinder, sie verwechseln noch vieles und sind zu Schabernack aufgelegt.

 

 

 

Noch aber war ich voller Euphorie. Selbst ein Bühnenstück schreiben und aufführen, das war es! Die Story hatte ich schon im Kopf: Eine Rockband übt versessen auf die Teilnahme an einem Wettbewerb hin, säuft sich nach den Proben Löcher ins Gehirn, gerät in die Phantasiefalle und endet wie im wahren Leben, d.h. die Musiker finden ins Bürgerliche zurück und genießen ihr gutes Auskommen im Knast, in der Heilanstalt und im nebligen Nimmerwiedersehen irgendwo im Nirvana nahe Wilhelmshaven. Titel stand schon fest: ‚Nüchtern geht’s auch nicht‘.

„Kommt mir bekannt vor“, nörgelt Karl-Heinz, der Macker von Rita.

„Hat keine Dramatik, keinen Sex und keine Spannung, schimmliges Altrockergeschwafel.“ Erläutert Rita.

„Crime fehlt auch.“ Eine Stimme, der von Karl-Heinz nicht unähnlich.

„Geht den Menschen hierzulande am Arsch vorbei.“ Sagt ein Individuum aus Leer, das sich berechtigt fühlt, seine Meinung kundzutun mit der Begründung, er sei Bassgitarrist und insofern gesichtslos, mehrfach entwurmt und lesekundig. Der Kerl scheint aus meinem Bühnenstück gesprungen zu sein, obwohl es noch gar nicht aufgeschrieben ist. Weiß jemand, was Pirandello dazu gesagt hätte?

Rita kam dann mit dieser Idee heraus. Sie habe mal den Tanz der Schweine aufgeführt. In der Grundschule. Kann auch Tanz der Schwämme geheißen haben. Ballett, Zehenspitzen, Pirouetten, Schwulsein und so. Eben die hohe Kunst des Tanzes. Für nichts anderes würde sie sich hergeben.

„Und ich spiel dann den Paddedöh!“ Karl-Heinz prunkte mit Insiderkenntnissen auf.

„Der Sportlehrer hat gemeint, ich sei praktisch die Nijinsky der Tafelrunde“, flötete Rita melismenreich.

„Wer Ballett sagt muss auch Nijinsky sagen.“ Karl-Heinz wieder.

Sie habe als einzige ihrer Klasse dreißig Sekunden lang auf den Zehenspitzen ausgehalten, karrte Rita nach, ein Ziegenfinger Gottes sei das gewesen, vielmehr Zeigefinger, man wird sich ja wohl noch versprechen dürfen.

„Ich geb dann den Papageno, der mit den vielen Weibern“, quasselte das Individuum aus Ostfriesland sinnentleert dazwischen.

 

„Wie soll das Stück denn heißen und worum geht es bitte schön?“ Ich war wieder auf den Zug aufgesprungen und dachte, mit meiner Frage würde sich alles von alleine erledigen.

„Na das ist doch klar!“ Rita stopfte meine Hoffnungen in den gelben Sack. „Erst geben wir unserer Truppe einen Namen und der lautet ‚Die göttliche Tanzcompagnie‘. Damit führen wir das Stück ‚Liebe im Dreivierteltakt‘ auf, ein dämonischer Reigen mit zwei langjährig Verlobten, die sich gegenseitig das Ja-Wort abluchsen wollen, indem sie circen und circensieren, wenn ihr wisst was ich meine, um dann wieder engelgleich beseelt dahin und dorthin zu schweben, bis unvermutet der eiserne Vorhang fällt und die Musiker unter sich begräbt, ein Kehraus, wie man es noch nicht erlebt hat.“

„Und die Musik?“ warf ich ein.

„Machst du natürlich, eine tönend-schmachtende Walzergirlande aus deiner kongenialen Feder. Ich sehe schon die Tränen der Zuschauer aufleuchten.“

Die Musik habe ich dann tatsächlich gemacht. Ein Gigantoman-Werk von dreieinhalb Stunden, eklektisch, virulent, collagiert unter Einsplitterung von Zeitsprüngen, die Technik des Sound Quilting kreierend, im Duktus dreiviertelig mit Phasen von Off-Beat-Entgleisungen, das orchestruse Finale gestaltet als ein sich dem Willen der Welt entgegenbäumendes Inferno.

Zu Proben kam es erst gar nicht.

Geschweige denn zu einer Aufführung.

Rita meinte spitz, das mixtum compositum sei in ihrer dekonstruktiven Struktur und der chromatisch-aberativen Textur nicht tanzbar.

Wenn Rita so redet, lässt sie ihre Partner argumentativ ganz schön in der Scheiße im Regen stecken.

Wie so viele Geniestreiche wurde auch meine Ballettkomposition zu ‚Liebe im Dreivierteltakt‘ aus dem Fundus des musikalischen Welterbes gestrichen. Müßig, darüber zu räsonieren. Was bleibt ist ein wiedergefundenes Fragment, ein schaler Abglanz, nichts als ein Schnipsel verlorengegangener Universalmusik.

 

Einen Tonarm benötigt man heute nicht mehr, um die Platte zum Erklingen zu bringen, nur die Maus.

 

 

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