Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 50

 


 

Nach einer Pause von etwa einem halben Jahr brachte Rita sich mit einer Mail wieder in Erinnerung. Sie sei ins Schlafzimmer gezogen, mehr oder weniger. Der Herr Doktor mit seinem Tick treibe sie noch in den Wahnsinn. Ob Jerry überhaupt wisse, dass ihr ehemaliger Macker und nunmehriger Ehemann Karl-Heinz in später Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit als Sozialarbeiter noch ein Studium der Wirtschaft und des Finanzwesens durchgezogen und sogar einen Doktortitel draufgesetzt habe? Ob Jerry wisse, dass sie darunter leide? Natürlich nicht unter dem Titel, sondern unter der Metamorphose ihres Mannes zum Zombie des Bürgerlichen, zum Doofe-Witze-Erzähler (immer den gleichen Witz über einen Maurer, der zum Arzt geht), zum Hobbyangler und samstäglichen Fahrradsäuberer, zum aufgeplusterten Vatersurrogat ihrer beiden Kinder? Ob Jerry auch nur im Entferntesten ahnen könne, was es bedeute, mit einem NICHTS seine Tage zu verbringen?

 

Jerry brach die Lektüre ab. Das brauche ich mir nicht anzutun, dachte er, dergleichen höre ich seit Jahrhunderten an der Musikschule, von Kolleginnen und von überreizten Müttern, zwar nicht so krass, aber das Boot ist voll, Boot durchgestrichen, ersetzt durch Fass. Und überhaupt, wieso schrieb die Dame in einem Stil, der nicht ihrer war? Hatte sich da jemand anderer an ihren Computer gesetzt und ihm diesen Sermon gemailt, um ihn zu täuschen?

 

Das war nicht Rita.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

schrieb Jerry in die Antwortzeile, mir ist bekanntlich keine Laus über den Rücken geflattert, aber ebensolches Getier, so scheint die Vermutung des hiermit Schreibenden, muss die Lebenschance seines, nämlich des Getiers ach so fragwürdigen Seins ergriffen zu haben, die Schreiberin oder sogar den Schreiber des o. a. Briefes in einer des Getiers eigenen rauschhaften Art und Weise zu beeinträchtigen, und zwar durch Eindringen in das bei animalischen Daseinsformen so genannte Bregenrevier, um dort die bereits erwähnten o. a. Zeilen zu initiieren, die, um es mit der größtmöglichen Zurückhaltung auszudrücken, einen Dünnpfiff aus den dem geistigen Agglomerat immanenten Modder herausgeblasen haben, einen Schiss hinterher, jawoll.

Solltest es aber du wirklich als hier und mir bekannte Rita selbst sein, die mit der o. a. Prosa dem ehemaligen und noch immer wohlwollenden Mitstreiter juveniler Gemeinschaftsaktionen auf den Senkel (ich haben nicht Sack gesagt) gegangen bist, dann gute Nacht, Marie.

 

Jerry klickte auf den Sendeknopf, warf sich die Jacke über, rief ins Resthaus noch ein "Bin zu Reinhard!" und begab sich schnurstracks in die Alte Mühle.

 

Diedel war nicht da. "Elternabend", schnaufte Reinhard vom Zapfhahn.

"Tochter oder schon die Enkel?" fragte Jerry.

Reinhard schob Das Übliche über den Tresen, einen halben Liter vom hiesigen Bitterbräu. "Was weiß ich."

"Gut", sagte Jerry nach einem tiefen Schluck, "wenn du schon nichts weißt , dann weißt du bestimmt auch nicht, ob meine Ausdrucksweise ritaisiert ist bzw. ritaeske Züge angenommen hat."

"Genau", sagte Reinhard.

"Was genau?"

"Wie du schon sagtest: weiß ich nicht."

"Damit wäre auch dieses geklärt." Jerry leerte das Glas.

 

Walküre stolperte durch die Tür, die geschiedene Frau des Informatikers Steffen Schablonski, einem ehemaligen Mitglied des Clans der Bekloppten, weitläufig. Walküre hieß in Wirklichkeit Josephine, niemand konnte sich erinnern, woher sie ihren Spitznamen hatte. Reinhard, der abgeklärte Wirt und Menschenkenner, füllte acht Schnapsgläser mit Wodka und reihte sie in gerader Linie auf den Tresen. Walküre nahm davor Platz. Mit der größtmöglich anzunehmenden Grandezza einer Norddeutschen ergriff sie ein Glas nach dem anderen und schüttete den Inhalt in ihren Rachen, wobei sie jeden Gang mit einem "Gut Schuss" kommentierte.

Nach Abschluss der acht Wahlgänge drehte sie sich zur Seite, erblickte Jerry und sagte "Schau an, der Jeremias. Welches Lamento treibt den Propheten diesmal in das Walhall der zirrhotischen Mudschahedin?"

 

Es entspann sich ein Gespräch über den Dünnpfiff, der als Produkt von Ganztagsschule, Powershopping und Smartphone-Gucken in die Bregenkavernen der Kinder geblasen wird.

 

Später, daheim, das Haus lag bereits im Dunkeln, klappte Jerry seinen Laptop auf und dengelte mit fiebrigen Fingern tonlose Satzkonstruktionen in die Tasten. Seine Frau fand ihn am Morgen, zusammengesunken über dem Schreibtisch, friedlich schlafend, die Whiskyflasche fest in der Faust.

 

 


 

 

Der Ruin des Supermarktes

 

Die Frau des Chefeinkäufers Balthasar Brockenfall hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Supermarkt zu ruinieren. Sie würde Vorfälle erzeugen, sagte sie zu ihrem Mann. Der Chefeinkäufer nickte bedächtig und zog an seiner Pfeife. Die Pfeife war kalt, der Tabak abgebrannt, und beim Saugen an der im Grunde nutzlosen Pfeife traten gurgelnde Geräusche im Inneren des Mundstückes auf, die darauf schließen ließen, dass sich dort Sud oder Speichel angesammelt hatte, vielleicht auch eine Kondensflüssigkeit, die, sobald sie auf die Zunge des Saugenden traf, ein scharfes Brennen verursachte, worauf sich der vermeintlich Rauchende genötigt fühlte, einen Rotz auf den Boden zu spucken, und zwar deshalb auf den Boden, weil in unmittelbarer Nähe kein spucknapfähnliches Gefäß vorgehalten wurde, das mit dem braunen Schleim-Speichel-Sud angefüllt werden konnte.

Balthasar Brockenfall rotzte auf den Boden.

Frau Adele Brockenfall zog die Gardine vom Wohnzimmerfenster zur Seite, streckte ihren vielfach beringten Zeigefinger in Richtung des Supermarktes auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hub zu einem Wehklagen an. Der Supermarkt versperre die für sich genommen erkleckliche Sicht auf den Sonnenuntergang drunten im Huberertal. Den Sonnenuntergang aber könne man nur ahnen, das sei früher besser gewesen. Heute müsse man sich mit dem Beton- und Glasklotz begnügen, der geradezu wabere vor Protz und Blendwerk. Der versperre sogar die Sicht auf den Watzberg, dessen Spitze gerade mal über den First des Supermarktungetüms luge. "Ein Skandalum", sagte sie geziert. Und in einem Anfall von Schadenfreude setzte sie nach: "Aber dem Beichtvater Pastorius Gotthelfe Knustfurzer, dem habe ich es schon hinter die Ohrlöffel gepackt, und keineswegs zu dünnhäutig, das sage ich dir."

Dass der Sonnenuntergang bereits hinter dem Watzberg seine Pforten schloss und deshalb nicht im Huberertal Einzug halten konnte: mit solcherlei Logik konnte man bei der Frau Adele keinen Fußbreit punkten.

"Dir wird noch mal der Schubiak über das Gatter hüpfen." Dies vermerkte der Chefeinkäufer in wenig galanter Manier. Man muss wissen, dass allein schon das Wort Schubiak den Einwohnern der Kleinstadt Lodenheim hier am Fuße des Monte Malo einen gehörigen Schrecken einjagte. Den Gedanken aber auszusprechen, einer dieser Gesellen könne vorbeikommen, um über das Gatter zu hüpfen: das galt als höchste Alarmstufe. Und wirklich zeigte der Satz seine Wirkung. Frau Adele erbleichte. Mit weinerlicher Stimme verlangte sie das smarte Phon. Sie müsse die Huberer warnen, denn wenn das Schubiakenpack erst einmal über das Gatter hüpfte, war das Ende der Herrlichkeit in Sichtweite und selbst der Graf von Monte Malo könne angesichts der Trampelage nur noch das weiße Kapitulationshandtuch vom Burgfried schleudern.

Man gut, dachte Balthasar, dass sie darüber ihr Vorhaben vergessen hat, Vorfälle zu erzeugen. Er selbst hatte nichts gegen den Supermarkt einzuwenden. Der hatte bis 20 Uhr geöffnet, und Balthasar wollte sich gar nicht ausmalen, was wäre, wenn dort noch der alte Krämerladen stünde mit der griesgrämigen Letitia Grabmade, die war ja schon über die 70 und hatte einen Männerbart unter der Lippe, und wie die überhaupt keifte, wenn man mal den Laib Brot zurückgeben wollte, weil der von innen einem Schimmelpilz üppige Nahrung zur Verfügung stellte, dass einem Hören und Sehen verging, sprichwörtlich, und dann erst die Kernseife, meine Herren, die hatte einen Geruch, da würde ja das ganze Büropersonal die Stirnpartie zu runzeln nicht abgeneigt sein, eine Blamage und erster Sargnagel für seine Karriere als Chefeinkäufer beim Sanitär- und Eisenwarengroßhandel Rauschenbacher GmbH.

Derweil hatte Adele das Smartphone mit zittrigen Fingern zu bedienen gewusst, hin und her waren ihre Fingerkuppen auf dem Display gejuckelt, bis endlich ein heiserer Ton aus dem Lautsprecherlein krächzte. Es war die Heidi, die vom Huberer-Klan, die, die immer auf den Watzberg kraxelte, um von hoch oben einen feschen Jodler abzublasen.

Was die Adele denn mitzuteilen hätte, frug die Huberer Heidi zerzaust. "Da sieht man es wieder", rief die Frau Brockenfall seelisch erstarkt, "sie führt meinen Namen noch im guten Munde!"

Herr Balthasar Brockenfall hatte seinen Pfeifenstopfer in Anschlag gebracht und tief in den Kolben gestoßen.

"Die Sirenen pfeifen es schon von den Dächern!" Wiederum schrie die Brockenfall Adele mit druckgeschwängertem Stimmvolumen. "Der Schubiak will über das Gatter hüpfen."

Hier schritt der Gemahl mit vehementem Gestenreichtum ein. Das Smartphone entriss er seinem Weibe. Womöglich würde die Heidi die Sturmglocken über das Tal hereinbrechen lassen, wenn sie für bare Münze nähme, was die Adele da in den Hörer posaunte. Nein, da galt es das kleinere Übel hinzunehmen und die Erzeugung der Vorfälle seitens seiner Frau ins entsagend Auge zu fassen. Was er sich erlaube, keifte diese. Der Ehefrieden sei gestört. Sie würde sich jetzt auf die Socken begeben und Vorfälle erzeugen drüben im Supermarkt. Da brauche er, der rüde Unterbrecher der Nachrichtenkette, sich keinen Deut mehr machen.

Die Vorfälle, die sie andeutete, waren schon Anlass genug für ein Einschreiten auf höherer Ebene. Einmal hatte sie sich in die Fleischabteilung gehockt, auf ihre geborstene Gitarre geschlagen und Folklorelieder zum Intonieren gebracht, Lieder, aufrüttelnd in jeder Zeile, Verse, die zum Denken aufforderten und protestlerisch rüberkamen. Da hatte der Fleischermeister sein Beil in den Hackklotz gewuchtet  und das Wort "Schweinedarm" gerufen. Wirkungsmächtig war auch der Vorfall, den sie als szenische Lesung aufgeführt hatte. Ihr nacktes Hinterteil hatte sie in die Käsetruhe gerammt und dabei ein selbst verfasstes Gedicht über den Wahnsinn der Atomelektrizität vorgetragen, kühn, verstörend, unbequem. Der Sicherheitsdienst musste die Truhe mitsamt Inhalt nach draußen tragen, da der Hintern der Adele festgeklemmt war oder eingefroren oder beides. Ein ander Mal war sie mit einem Plakat durch die Dessous-Abteilung gestürmt. Auf dem Plakat konnten die Hausfrauen, die gerade die Seidenunterwäsche befingerten, einen geschlachteten Hammel erblicken, der an einem Galgen hing, angetan mit einem BH und einem Stringtanga. Dass die Adele bei jeden Einkauf die Suppendosenpyramide umwarf oder das Regal mit den Weinflaschen zum Einstürzen brachte: das gehörte praktisch zur guten Kinderstube ihrer Shoppingtour.

Und Adele Brockenfall sprang hinüber und erzeugte Schlag 19 Uhr den ersten Vorfall.

Der Ruin des Supermarktes war nur noch eine Frage der Rhetorik.

Freilich, der Schubiak, der lauerte bereits vor dem Stadttor von Lodenheim, mit den flammenden Insignien der Raserei, und er machte unmissverständlich Anstalten, über das Gatter zu hüpfen.

"Darauf kannst du einen Besen werfen", sagte der Chefeinkäufer zur heimgetriebenen Adele, welche derart aufgestachelt mit der Erzeugung weitaus schändlicherer Vorfälle drohte. Da aber, als wolle er das Schicksal mit Treu und Glauben besiegeln, rotzte Balthasar auf den Boden.

 

 

Durchaus wohlwollend äußern sich dazu unsere Philosophen.

 

SCHLOTTERDICK & ZERFRANSKI

 

Schlotterdick: "Das Zusammenwirken von deontisch präliminierter Logik und ideengeschichtlicher Konnotation in semantisch virtueller Vierdimensionalität schafft qua Außenansicht einen Realitätseffekt, wie Roland Barthes auf meinen Diskurs des Zynischen recht hilflos plagiierte, der, als Metapher eines in den Ruin kategorisierten Supermarktes die Identität des Mentalen selbst da superveniert, wo die in der Raumzeit gekrümmte Parallelität der Hyperstasien ins Klerikale aufscheint, der mithin suppletorisch von sogenannten 'Vorfällen' irreduzibel ins Periphere verschoben wird, dort, wo der Schubiak sich über das Gatter wesenhaft transpondiert."

Zerfranski: "Hätte Roland Barthes doch besser geschwiegen."

 

 

Knopf drücken, schlau werden:  Quark 51  

 

 

zurück nach Biographie       

Warnungen, AGB, Dementi, Kleingedrucktes, Blog: