Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 51

 


 

 

 

  Dr. Brandstetter
 










 

Familienfoto

 

Der Bub benötigte ein Passfoto. Wegen des Schul- bzw. Skiurlaubs in die Dolomiten, den sein Klassenlehrer angekündigt hatte. Jeder habe einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuweisen, sonst fiele die Veranstaltung ins Wasser. Erst das Foto, dann der Antrag beim Einwohnermeldeamt. "Es geht alles seinen geregelten Gang", sagte Dr. Brandstetter zum Fotografen, "mal eben so ins Ausland, das ist nicht."

Der Bub verdrehte die Augen. Dr. Brandstetter hatte darauf bestanden, dass die ganze Familie beim Fototermin dabei war, damit jeder ein Passbild von sich mit nach Hause nehmen konnte.  Zusätzlich noch ein schönes Familienfoto. "So schlagen wir eine Fliege mit einer Schlappe."

"Zwei Fliegen mit einer Klappe", korrigierte die Frau.

Jessica hatte ihren Lover mitgeschleppt, der mit dem Hakenkreuz auf der Kutte. Der Bub schnitt jetzt Grimassen. "Wenn dich die Grenzer unbedingt einbuchten sollen, dann mach ruhig weiter so." Dr. Brandstetter fühlte eine Wut in sich aufsteigen. Erst in letzter Minute war die Frau erschienen, mit einen Turban, den sie um ihre noch nassen Haare gewickelt hatte. Kurz vor der Aufnahme, so hatte sie erklärt, würde sie den Turban abnehmen und in einem neuen Glanze aufscheinen.

"Zuerst machen wir das Familienfoto", rief Dr. Brandstetter zunehmend missgelaunt, und er klatschte in die Hände. Auf dieses Zeichen hin ruckelte der Fotograf den Studiokorbstuhl in die Mitte des Raumes und sagte, sie sollten sich wie von ungefähr um den Stuhl gruppieren, dann würde er gleichzeitig mit dem quasi Schnappschuss per Fernbedienung die indirekten Blitzlichter auslösen und die Familie in eine "anheimelnde Atmosphäre tauchen." Jessicas Lover hatte sich aber sofort in den Korbstuhl gefläzt und seine tätowierten Arme vorgestreckt mit zum Angriff geballten Fäusten, so, als wolle er den Fotografen bzw. den Betrachter des Bildes mit einer Rechts-Links-Kombination niederstrecken.  Danach aufspringen und den fast schon leblosen Körper mit den Füßen traktieren, auf den Schädel springen, die metallbewehrten Spitzen seiner Springerstiefel in die Weichteile des Opfers treiben, dabei wüste Beschimpfungen ausstoßend.

Dr. Brandstetter war in eine schmutzige Seitengasse geflüchtet, das Handy hatte keinen Empfang, ein massiger Neger kam auf ihn zu und aus einem verbretterten Hintereingang klang ein schweres Keuchen. Es fängt schon zu Dunkeln an, dachte Dr. Brandstetter noch, die Tage werden kürzer.

 

 

 


 

Grausige Details einer Entführung

Eine Nacherzählung

 

Marlene Kaltenfussel hatte noch Zeit. Ein Geräusch hatte sie aus dem tiefsten Schlaf geholt, eine Art Schlurfen oder Rascheln, aber schlaftrunken wie sie war, gab sie nichts darauf. Der Reisewecker würde ohnehin gleich zu Piepen anfangen. Da wurde sie aus dem Hotelbett gerissen und grob auf die nachtwarmen und noch schlaflahmen Füße gestellt.

„Sind's die Schubiake, um mich zurückzubringen?“ rief sie angstgesättigt, während sie nach einem Halt tastete. In dieser Frühe war es noch finster, kein Lichtstrahl furchte durch knapp gespreizte Jalousienlamellen, keine trübe Birne an der Stuckdecke, kein aufflammendes Zündholz, welches, fahrig hierhin und dorthin flackernd, von zitternder Hand geführt wurde. Ein modriger Hauch fuhr um die Wehen der Marlene Kaltenfussel bzw. wehte um ihre Fuhren, oder genauer gesagt, fuhrte wehend in ihr Nasengehöcker. Entsetzt wich sie zurück. „Der Gestank des Robiniak!“ gellte sie, „der Odem des alten Hauzahns, desjenigen mit dem schwarzumrandeten Fuß!“

Keine Antwort, nicht einmal ein Schnaufen. Dafür eiserne Bizeps, die die Schrumpelbrust der Marlene quetschten, nicht zulassend, dass sie nach Luft schnalzen konnte, lediglich ein Pfeifen aus gepresstem Lungenödem. Das rasselte. Man könnte einen Vergleich anstellen zur Veranschaulichmachung des Geräusches aus gequälter Folterbrust, man könnte das Kettenscheppern eines Panzerfahrzeugs als Beispiel heranziehen oder das Ratschen, wie wenn zwei rostige Eisenplatten von unsichtbarer Hand aneinander gerieben würden, oder vom Husten eines Dieselmotors könnte man parlieren, mit Fehlzündungen, die frisch in den Nebel knattern. Doch alle Metaphern versagen angesichts des Ungemachs, welches die Marlene hier im Reise- und Durchgangshotel auf halber Höhe des Watzberges ertragen musste. Zur Umklammerung kam ja als Zweites der Knebel, ein vorweg klebrig eingespeicheltes Wollknäuel, das unzart zwischen die Zahnreihen der zur Entführenden geschoben ward. Und es folgten als unumgängliche Marterung und Sicherstellung des Opfers die Ohrstöpsel, gewonnen aus dem Kleister der Kartoffelstärke, geschmeidig gezwirbelt in die Form glattbäuchiger Zwiebelchen. In die Ohrgänge der Marlene wurden die Preziosen hineingezapft, mit obszöner Begleiterklärung, und Marlene, von da ab taub und stumm und geknebelt, erwartete gar nichts mehr.

Welch Fehl in der schon abgeschlossenen Hoffnungslosigkeit!

Denn ein Viertes wurde vom grausamen Robiniak in Rechnung gestellt, und ja, kein anderer als der alte Hauzahn mit seiner vergleichlosen Ungüte war es, der hier werkte. Ein Viertes also sollte den Handlungsstrang krönen. Dieses Vierte aber war nichts Bedenklicheres als das Einträufeln einer schwer durchschaubaren dünnflüssigen Substanz, und die Transfusion sollte wie immer ohne Tadel anstellig ausgeführt werden!

An diesem Punkte jedoch, just nach dem vorhergehenden Komma der Nacherzählung, sprang der Sekundenzeiger des Reisenweckers auf die vormarkierte Stelle, und es schrillte das Wecksignal auf wie Fanfarenstoß und Kriegsgeheul. Gleichzeitig stießen auch in den anderen Zimmern des Flures die Wecker ins Alarmhorn. Denn was der grausame Schubiak nicht auf seinem Spickzettel notiert hatte, ging  soeben als die Saat der Überraschung auf: 50 Ältliche vom Klan der Huberer hatten sich vortags einquartiert, und alle hatten akkurat ihre Wecker sekundengenau auf den gleichen Zeitpunkt gestellt. Wie von Dirigentenhand geleitet erhob sich ein Oratorium der Glöckchen, Piepser, Klingeln, Ratschen, Pfeif-, Quak-, Jaul- und Rasseltöne, ein Rascheln und Husten, ein Fensterlüften, ein Rauschen von 50 Toilettenspülungen, ein Klappern von 50 Zahnputzbechern, ein allerseits An-die-Wändeklopfen und Türaufstoßen und Fraternisieren, und dies zusammen bedeutsamte die Rettung der Marlene Kaltenfussel, geb. Huberer, geschiedene Schubiak. Haargesträubt wich der Robiniak, der alte Hauzahn, vor dem Inferno zurück und kopfstürzte paniklich aus dem Fluchtfenster. Buchstäblich auf den Sekundenschlag wurde die Marlene gerettet. Und noch viele Tage danach wurde sie von den Ältlichen aus dem Huberertal befürsorgt, abgestreichelt und mancherlei beglückwunscht.

 

 

Unsere Philosophen verweisen auf ein Manko:

 

SCHLOTTERDICK & ZERFRANSKI

 

Schlotterdick: „Die Behausung des Ungefähren – ein altes Menschheitstrauma – dargestellt in der Fallstudie der Entführung der Marlene Kaltenfussel als Paradigma einer Entwirklichung, eines Außersichseins in der Wendung zur identitätsstiftenden Materialisierung stochastisch separierter Dekohärenzen impliziert die Frage nach der Reversibilität einer paraphrasierten teleologischen Inkomplexivität, wie sie, man muss es bedauernd konstatieren, nicht einmal Jean Paul Sartre zu imaginieren verstand, ein gemeinhin im existenzialistischen Diskurs unterschlagenes Manko.“

Zerfranski: "Ein großer Gedankengang, der wirkmächtig den fälligen Paradigmenwechsel einläutet.“

 

 

 

Riffmeldungen

Mutter sorgte sich sehr. Brot, Zwiebelwurst und ein Pappteller voll von schwiemeligen Schwarten verteilten sich auf dem Küchentisch, jegliche Ordnung missachtend. Der Vater würde gleich nach Hause kommen, würde polternd die Tür eintreten, mit dem Barett zwischen den Zähnen. Nach Kaffee würde er gebieterisch heischen und nach Fußwasser. Wenn doch nur bald das Dienstmädchen einflöge mit ihrem Geschnatter. Der Fernseher flackerte auf und lockte mit zischelnden Lauten gleich einer Natter auf nächtlicher Balz. Alsbald würde sich der Vater die Mutter vornehmen und recht ordentlich zu Gemüte führen. Wir Kinder konnten bereits die Geräusche nachahmen, dieses Rapunzeln, Schleifen, Getolle, dieses Gnattern und Knirren. "Der Tod kommt später", röchelte die Mutter, und sie band sich die Schürze fest und fester.

 

 

 

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