Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 26

 


 

Mehrfach schon wurden die prämierten Wohnlandschaften und Designobekte des Jerry McTeshy erwähnt als auch vorgestellt. Man recherchiere in den verschiedenen Quarks der Erstbiographie (I. Konvolut) und werde fündig. Die bisherige Verschlüsselung des Jerry zur imaginativen Ichperson mag man bedauern;  aber das nunmehr und hier an dieser Stelle erzeugte auktoriale Erzählen ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei, wie die Literaturkritik zu wissen vorzugeben ohne Gewissensnot bereit ist.

Die Frage ist doch: Kann eine Biographie glaubwürdig vorgestellt werden, wenn sie in der Ichform geschrieben wird? Worin besteht dann der Unterschied zur Autobiographie? Was erzählt überhaupt die Graphie und breiten nicht schon im Wort ‚Erzählen‘ die Lüge und haltloses Geflunker ihre Flügel aus?

Alles kalter Diskurskaffee, klar, aber was soll man von der Fama des Jerry McTeshy halten, da er nun mal Interieurs kreiert hat, die des Realen wahrhaftig und grundehrlich zugeordnet werden müssen? Sehen wir uns die Exhibition „Schmach der Alpen“ an:






Wer wollte im Ernst die Existenz der Installation abstreiten? Müsste dazu nicht mindestens die Chuzpe atavistisch triebstrukturierter Vorwesen aufgewandt werden?

Schmach der Alpen

Was also jetzt?

Was aber noch weiter,

wenn die Autobiographie als Biographie behauptet wird vom Icherzähler, dessen Protagonist  (Auto oder Bio – wie auch immer) einen Herrn vorstellt, den, und nun höre man genau hin, von der Erzählperson nur Zwiefaches trennt: die Ichheit und das Pseudonym? Aber warum treten dann beide auf, werde ich gefragt von einem, der vorgibt, nicht er selbst zu sein, sondern der Erzähler seines Selbst, genannt Ich als Jerry, der wiederum mit Walter vor dem Edekaladen Gespräche anzettelt, denen eher die Aura des Erfundenen anhaftet – weiß man es?

 

Hier schneide ich erstmal den Gedanken ab.   

 

Und füge ein weiteres Beweisstück des Wahrhaftigen alles hier Behaupteten ein:

 

 

Der Sängerkrieg zu Bayreuth        

 

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Wer ist Walter vor dem Edekaladen?

 

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Schmach der Alpen können wir ebenso wenig als Kuckuckskonstrukt abtun wie die Episode, bei der Jerry sich trotz der Wahl zukunftssicherer Studienfächer mehrfach verstudiert hatte, kurioserweise auf Anraten der jeweiligen Seminarleiter (nicht das Verstudieren wurde angeraten; die Wahl!). Oder die peinliche Szene, die seine beiden Schwestern Gertrud und Hiltrud in Ägypten aufs muselmanische Tablett gewienert hatten, von den Kapriolen der Brüder ganz zu schweigen. Welche Szene? (frug der Ich in Stellvertretung dessen Es = Leser). Kommt darauf an, die beiden waren nach Abarbeiten der Pubertät für viele Szenen gut. Vorher freilich auch schon: typische prä- als auch postadoleszente Orgien der feminalen Selbstentblödung. Romane (Selbstfindung!) könnte man darüber schreiben, andere AutorInnen haben sich da längst schamlos die abgegriffenen Klischeeklinken in die Schmutzfinger geschmiert – welch ein breiendes Gewölle.

 

Mit dem Ausrufen von Schweigeminuten hatte eine Phase begonnen, die Jerry gegenüber Diedel, dem ewigen Zweitgitarristen (ähnlich dem Rennfahrer-As Sterling Moss, kennt den noch einer? Den ewigen, d. h. vierfachen Vizeweltmeister?) als die Emanation exhibitionistischen Verbaldranges und Epiphanie seines dinglichen Innersten beschrieb, worauf Diedel nur das Bierglas hob und mit einem „Und?“ empathisch nachfrug (schon wieder frug), wohin denn die FORTSETZUNG dieser abrupten Gefühlsaufwallung ihr Kainsmal geschleudert hätte.

Das war starker Tobak! Hier wäre ernsthaft nachzuforschen, ob man mit dem Ausdruck „Und“ nicht einen Weltkrieg auslösen kann! Oder die Atombombe abschmeißen. Oder eine Ehe schließen, was ja dem Nagel die Krone auf das Fass setzen würde. Man stelle sich den Standesbeamten vor, der die alles entscheidende Schicksalsfrage stellt („Wollt ihr den totalen Krieg?“ Haha, Kalau!) und die Brautleute rufen: „Und?“

Sicher, es sah nach FORTSETZUNG aus, gerierte sich gleichwohl als geradlinige Weiterentwicklung. Nach dem Ausrufen von Schweigeminuten nämlich kam die Zeit der Proklamationen.

Was geschah da?

Jerry, Diedel und ein paar andere aus der Clique der Beklopptesten der Kleinstadt traten an ausgesuchten Orten der Verblödung Verblindung Verblendung (Marx? Adorno? Sackgesicht Fischer?) auf und stießen lautstark Proklamationen aus.

Ach so.

Das konnte ein Appell sein oder ein Ultimatum oder ein Manifest oder ähnliches.

Der erste Aufruf trug noch die Insignien des Unfertigen. Im Schuhhaus Wilken (dem mit dem Salamander) wurden Zettel verteilt mit einem Text, den Jerry schon als Gedicht dem Suhrkamp Verlag geschickt hatte mit der höflichen Aufforderung, dieses in „güldenen“ Lettern als Fortsetzungsroman zu veröffentlichen.

Nun gut, im Nachhinein kommt mir das Ansinnen ziemlich sophisticated vor (wieso mir?).

Der Einwand der Schuhverkäuferin, hier handele es sich um keine Bahnhofshalle, wurde mit der Begründung abgeschmettert, sie trage einen Minipli billigend zur Schau und sei deshalb nicht berechtigt, das politische Engagement der Bürgerbewegung „Neues Ost“ zu desavouieren. Außerdem wüssten wir, dass sie „säumig“ sei. Worauf sie errötete und erstmal schwieg. War natürlich Blödsinn aber die Geburtsstunde des Namens „Neues Ost“. Vermutlich ein Versprecher. Wurde wenig später geändert in „Neues Post“, danach etliche Varianten, die allesamt als sprachbildhafte Zuspitzungen die Idee der Bürgerbewegung verfehlten:

Neuland Hose – Kolchose Neuengamme – Die Westgoten – Platz da, der Oberkellner kommt – usw.

 

Jerry pflanzte sich vor einen Kunden auf, der eine fellgefütterte Babusche in der Hand hielt: 

„Es geht um die Frage der Gerechtigkeit!

Es geht um den Vorteil der Demokratie!“ 

Diedel fuhr mahnend dazwischen:

„Hört, hört, ihr Sklaven des falschen Bewusstseins.“

Nun erhoben die anderen Beklopptesten murrend ihre Stimme:

„Ich will auch mal einen Diktator ermorden.“

Hier unterbrach Diedel schon wieder:

 „Hört, hört, einen Diktator!“

Die Murrenden murrten störrisch weiter: 

„Und an Knabenschenkeln lutschen.

Meine Lügen durchs Fernsehen verbreiten lassen.

Kaviar kotzen.“

Jerry, verschämt, raunend:

„Stattdessen quäle ich meinen Dackel.

Kaum Ersatz,

hat er mich doch nicht demokratisch gewählt.“

Alle, sehr aufgebracht:

„Die freie Wahl erst verschafft

ungetrübtes Vergnügen.“

 

Da von fern die Martinsglocken anschlugen, wurde es Zeit zu verschwinden. Die nächste Station, die katholische Kirche (immer offen), Vater harrte unser. Hier kam es zur Verlesung einer Erklärung über die Königswürde, die sich bereits in Quark 25 eingeschlichen hat, dort aber ohne Kommentar und schmückende Beiworte und deshalb mit vielen Fragezeichen stigmatisiert. Erst hier, nach Darlegung aller zugeordneten Fakten, öffnet sich das Verständnis des Lesers gleich dem Maul eines weißen Hais beim Zugriff auf den Surfer.

Protokoll der Performance in der Urform, ungekürzt:

 

 Jerry stieg auf die Kanzel und verlas den Beweggrund zu der Proklamation:

„Bekanntmachung zur Stellung des Königs anlässlich unbotmäßiger Äußerungen von Untertanen, die durch Aktivitäten gewisser noch zu ermittelnder Unruhestifter zu Insubordinationen verführt wurden, welche keineswegs als lässliche Verstöße gegenüber Recht & Ordnung anzusehen sind.“

„Hört, hört!“

rief Diedel in Richtung Beichtstuhl, hinter dessen Vorhang gerade ein Mütterchen verschwand, von schwerer Schuld gebeugt, kaum Hoffnung unter dem Witwenbuckel, Herr erbarme dich unser.

Nun kreischte Rita los, furiengleich, sie hatte offenbar den Text missverstanden:

„Es muss nicht immer der König sein,

der die Eier legt.

Auch hohe Staatsbeamte,

Minister, Präfekten, Verwaltungsdirektoren,

sogar untadelig vereidigte Professoren,

lassen hie und da,

meist abseits im Gehege,

ihre Eier zurück.“

„Hört, hört“, deklamierte Diedel,

„sie lassen ihre Eier zurück.“

Jockel Meier trat vor den Altar, breitete seine Arme aus und beruhigte das verbiesterte Kirchenvolk mit dem Absingen eines gregorianischen Chorals:

„Mit ausgesuchter Diskretion, versteht sich.

Die Würde des Königs wird keinesfalls verletzt

von subalternen Eiervorkommnissen.“

Jerry, von der Kanzel:

„Er schließlich legt die dicksten Eier.“

Alle im Chor, erleuchtet:

„Ein König bleibt immer König.

Die dicken Eier beweisen es.“

 

 

Aus dem Beichtstuhl entwich Teufelsgestank. Das Mütterchen hatte ihr Amen gesprochen und danach gepupst. Von Außenlärm und Binnengestank schwer gezeichnet kam Pfarrer Borowski rückwärts aus seinem Kabuff gekrochen, eine zerrüttete Existenz am Rande des Wahnsinns. Nur noch der Rosenkranz zwischen seinen gichtenden Fingern schien seine Lebenssäfte in Zaum und Zügel zu halten.

Legendär die danach folgende Lesung im Rathausflur, vor den Augen des zufällig hereinschneienden Bürgermeisters Rudolf ‚Rudi‘ Röker.

 

„Die Fäulnis wabert!“

schrie Jerry, der sich vor das Einwohnermeldeamt aufgepflanzt hatte.

„Hört, hört!“ schrie auch Diedel,

 „sie wabert!“

Jerry, etwas gemäßigter:

„Sie drängt mit Macht ins male Speckgesicht

Röker, Röker, zieh dich an

Dein Schwanz steckt in der Klemme“.

Der Chor der Beklopptesten:

„Wir weinen dir keine Träne nach

auch vor nicht und dahinter.“

„Hört, hört, auch nicht dahinter!“ Diedel mit erhobenem Zeigefinger.

Jerry, mit eindringlicher Gestik:

„Denn heute noch soll der Zapfhahn sprießen,

noch heute schäumt der Hopfen Frucht.

Der Röker läßt die Zügel schießen,

zupft lüstern an dem Unterrock,

befingert scharf des Kleides Seide.

Der Bock, der geile, stürmt heran,

drum rette sich wer kann.“

 

„Drum rette sich wer kann!“

schrien die Beklopptesten der Kleinstadt wie in Todesfurcht, und sie stoben in alle Himmelsrichtungen auseinander, bevor der Hausmeister sie zu fassen bekam.  Nur Diedel hatte das Pech, vom Angestellten Horst-Ewald Grenzer aus dem Einwohnermeldeamt II noch bis hinter die alte Brauerei verfolgt zu werden. Sein keuchendes „Hört hört“ gilt hinfort als Aufschrei aller Elenden und Verfolgten der Menschheit.

 

 

Gesichter eines Lebens

     

 Jerry McTeshy                                        Jerry McTeshy                                        Jerry McTeshy                                     Jerry McTeshy

 


 

Keil der Verkenntnis:

 

 

Die seit einigen Jahren wieder aufblühende Erzählkunst des 19. Jahrhunderts, vorgenommen von Schreiblakaien des globalen Prosaraumes im Gefolge des Verdikts von R-Ranicki und des fraulichen Unterhaltungsföhns einer E-Heidenreich, mag ja dem geistmüden Urlaubsleser und Darniedergestreckten auf Strandsand oder Badeliege zu Gusto und Zeitvertreib dienen. Erzähltechnisch auf der Stufe eines Thomas ‚Sunnyboy‘ Mann stecken zu bleiben dürfte wenigstens jede Menge Tantieme einfahren helfen.

Vermodert ist es dennoch, dumpfgrunzend im Ganzen.

So ist es wieder à la mode, Biographien und Historienschinken (Mauerfall, Jugenddrama, Familiensaga, Beziehungsclinch usw.) abzuliefern, bei der es seitenlang und gefühlt endlos Landschafts-, Charakter-, Stimmungs-, Wetter-, Interieurs-, Personen- und was noch alles an Beschreibungen wummert. Der unreflektierende Wiederglaube, man könne die Wirklichkeit mit den Werkzeugen dieses verbrauchten Kunsthandwerks darstellen, hält Hof bei den einfach strukturierten Schreibern, und die Kritiker kreischen vor Lust, wenn sie mal wieder einen Roman in die Finger bekommen, der Schicksal, Wendejahr und überhaupt 'Lebenswahrheit' authentisch wiederzugeben vorgibt. Welch ein reaktionäres Cocooning-Gekuschel! Hier suhlt sich das Walmdach, die holländische Häkelgardine, der verlogene Kitsch der Nachbauten von Schlössern und Kirchen, der gemütlich-wärmende Plot vom unheilbar erkrankten IM, das ach so böse Märchen von der drogensüchtigen Aussteigerin  oder das Salbadern über die „Zustände“ des hier und jetzt internetierenden Niveauabsturzes.












Imitieren wir den Schein durch die Wirklichkeit (Stanislaw Jerzy Lec)

 

 

 

Spalt-Ende

 

------------------> Was aber macht diese Biographie anders?

Häh?

Nix oder doch?

 

Ach, es fehlen z. B. die oben angeführten Exaktbeschreibungen? Die realistische Schilderung der Figuren, die den Leser einlullt und sein Phantasie kastriert? Kann nachgereicht werden. Wie wär‘s damit:

 

Beschreibung des Diedel:

Nachname Hufeisen, mittelgroß, brünett, ohne Brille in der Jugend, später Altersweitsichtigkeitsgläser, nicht feist noch dürr, ab 1997 Tragen eines Bierbäuchleins, keine Hakennase, auch kein Muttermal auf dem Rücken, in der Jugend langhaarig vorn und hinten, später Vokuhila.

Ende der Beschreibung

 

 

 

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