Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 48

 


 

Auch muss eine Beschäftigung erwähnt werden, eine unter vielen, die Jerry (unter dem Pseudonym ich) zwischendurch, also während der Unterbrechungen seiner verschiedener Studien aufnahm, man denke an die in Quark 22 angerissenen Kolumnen für das Mitteilungsblatt der GpD, Unterbezirk Mitte. Wie der gewissenhaft den Ordnungszahlen unserer Quarks folgende Leser sich zu erinnern glaubt, hatte Jerry eine montägliche Kolumne für Freidenker abzuliefern mit Arbeitshypothesen über ungeklärte Phänomene und das allseitige Staunen darüber, dass sich die Wissenschaftler den naheliegenden Kausalitäten in ignoranthafter Blümerie abhold zeigten.

 

Hier nun soll eine Lanze gebrochen werden. Eine Lanze für den Einsatz allumfassender Kreativität, egal, wo der individuale Mensch sich aufhält, egal, in welchen beruflichen oder sozialen Bezügen er sich eingezwängt wähnt.

 

Jerry hatte einen finanziellen Engpass zu überbrücken. Das muss so in den 70ern gewesen sein. Die Tanzkapelle, von der er sich feudale Einkünfte versprach, hatte ihn fristgerecht entlassen, sprich von jetzt auf gleich. Angeblich wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die musikalische Ausgestaltung von Schlagern (Sauerkrautpolka, Deine Tränen sind auch meine, Ganz in Weiß, Was Frauen träumen, Schneewalzer etc.) durch 12-Ton-Kakophonien und halsbrecherische Freejazz-Läufe unter Einbeziehung von aleatorischen Radioeinspielungen auf Kurzwelle, Trillerpfeifen, Schiffssirenen und Kopulationsschreien. Den Kündigungsargumenten konnte Jerry nicht folgen, da sich seine Filigranarbeit am deutschen Liedgut doch auf der Höhe der zeitgenössischen E-Musik bewegte. Nein, hier waren wohl Antipathien im Spiel, sogar Neid wegen seines schöpferischen Outputs. Die Tanzmuckerfraktion (die sich selbst aber Mugger schimpften, als sei Mucker noch nicht Schmäh genug), dieser melting pot aus einer randomisierten Unterschichtauswahl an Rüschenhemdträgern, Schmierlappen, Dummfickern, Feistgrinsern, Drei-Akkorde-Schrammlern und Wienerwald-Gängern schämte sich nicht, den Inspirationen eines Ausnahmekünstlers das Schlimmste, das Unerträglichste entgegen zu setzen, und das war schlicht das Mittelmaß.

 

Davon vielleicht später. Denn hier soll ein anderes Debakel bürgerlicher Entartung aufgezeigt werden, am Beispiel des Pizzafahrers…aber zurück zum Ausgangspunkt:

 

Nach seinem Gastspiel als Tanzmucker resp. Tanzmugger hatte Jerry eine zureichend dotierte Praktikantenstelle bei einer multinationalen Düngemittelgesellschaft ergattert. Diesmal meinte es das Schicksal gut mit ihm, denn er wurde in die Werbeabteilung gesteckt. Die nannte sich Public Relations Sektion, und Jerry malte sich bereits die kühnsten Werbefeldzüge aus, mit denen er die Welt der Agrarier und des Kunstdüngers aufmischen würde. Mit einem provozierenden Slogan würde er seine Werbekampagne einleiten, unterlegt mit dem Schicksalsmotiv von Beethoven. Den Slogan hatte er schon in der S-Bahn formuliert:

 

Liegt der Bauer in der Schiete,

 verspricht der Dünger ihm Rendite.

 

Und darunter die Schlussfolgerung:

 

Sieger schwingen die Chemiekeule!

 

Mit Werbung war dann nichts. Jerry wurde in ein abseitig gelegenes Kabuff einquartiert, wo er Statistiken auszuwerten hatte. Im Klartext, er hatte Strichlisten aufzustellen. Dazu wurden zentnerschwere Stapel von Computerausdrücken in das Kabuff gekarrt, unendlich lange kleinbedruckte und meterbreite Papierfahnen, die wie eine Ziehharmonika zusammengefaltet waren. Das thematische Ende einer Untersuchung war durch eine Perforation angedeutet, die man wie bei Klopapierrollen einreißen konnte, um der nachrückenden Gewalt an Daten, Druckerschwärze und Papier Einhalt zu gebieten.

 

So war das in Zeiten der Dino-Rechner. Die Zahlenkolonnen auf dem Endlospapier waren abwechselnd in gelb und grün unterlegte Zeilen aufgeteilt, damit der Strichlistenersteller kommod mit dem Finger daran entlang fahren konnte, um die Resultate der Befragungen aufzunehmen. Heutzutage erledigt das ein smarter Rechner, zu jener Zeit konnte ein Student damit sein erstes gebrauchtes Schrottmobil verdingen, mit dem er alle paar Wochen die Schmutzwäsche in das elterliche Auffanglager transportieren konnte.

 

Jerry nahm es zunächst gelassen (behauptet er bis heute). Schon nach einer kurzen Einarbeitungszeit glaubte er freilich den eigentlichen Sinn des ganzes Aufwandes zu erkennen, und deshalb brachte er Ende der Woche Verbesserungsideen vor, die den Abteilungsleiter, ein schnauzbärtiger Herr namens Dr. Dietmar Düsinger, wenig amüsierten. Die statistischen Daten seien doch sterbenslangweilig, argumentierte Jerry, sie würden keine Sau hinter dem Ofen hervorlocken. Ohnehin wäre es effizienter, die Datenflut und der damit verbundene Strichlistenaufwand einfach zu ignorieren und stattdessen Ergebnisse zu erfinden. Diese müssten alle relevanten Lebensbereiche streifen zum Zwecke der Aufmerksamkeitserregung, der Kundenmanipulation und der Vernebelung des eigentlichen Konzernzieles. Dass die Düngemittelkonzerne nichts anderes im Sinn hätten, als die Bauern in ihre Abhängigkeit zu bringen, um dann die Preise für Kunstdünger und Saatgut nach Gutdünken zu erhöhen, das sei doch mittlerweile Allgemeingut, da könne man ihm, Jerry, kein O für ein A vorsetzen oder was immer man an Buchstaben ihm vorzugauckeln beabsichtige. Es gelte also, die Firma schlichtweg aus dem Bewusstsein der Leute zu streichen. Hier biete sich an, auf ein stets probates Mittel zurückzugreifen, nämlich die Leute auf ein Nebengleis zu führen, "auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole", wiederholte Jerry.

Und mit welcher Strategie könne man nun die Ablenkung herbeiführen?

Also fragte der Jerry den Dr. Düsinger, derselbe, der seinen Schauz nicht zu kaschieren trachtete, auch nicht mit einer Replik auf die ihm zugemutete Frage des Jerry. "Genau", sagte Jerry, "indem wir die Birne der Deppen mit verblüffenden statistischen Ergebnissen so zuknallen, dass sie keine Zeit mehr für kritische Gedanken finden." Derweil könne die Geschäftsleitung ihre Spielchen munter fortsetzen.

 

Die Stille im Abteilungsleiterbüro deutete Jerry als Zustimmung, ein zusätzlicher Kommentar schien tatsächlich überflüssig. Er solle gefälligst seine ihm zugewiesene Arbeit verrichten, krawallte der Düsinger plötzlich in die Stille hinein, wobei er schwächlich mit der Faust auf die Tischplatte hieb.

 

Keineswegs tat Jerry, wie ihm befohlen, und ein bis dahin unterdrückter Trotz trat offen zutage, unterfüttert durch eine (uneingestandene) Verstimmung wegen der Abschiebung ins Kabuff und der behämmerten Strichlisterei. Am Montag (schon wieder Montag) legte er dem Abteilungsleiter die Ergebnisse seiner neuen Arbeitsmethode vor. Dr. Düsinger nahm die Mappe entgegen, und am Nachmittag trabte Jerry wie so oft in Phasen des erzwungenen Müßiggangs zur universitären Jobbörse.

 

Wunder der Statistik hatte er seine Präsentation überschrieben. Der hier wiedergegebene Ausschnitt belegt, wie der Einsatz von Korrelationskoeffizienten die Wirklichkeit aus dem Chaos diffuser Mengenverwirbelungen herausschält.

 

Anmerkung des Lektors: In den 70ern kamen höchstens studentische Versager auf die Idee, multinationale Düngemittelkonzerne zu kritisieren, ihre chemischen Forschungen und ihre Politik zur Knebelung der Bauern zu geißeln. Insofern stimmen die Angaben nicht oder das Intermezzo des Jerry hat viel später stattgefunden. In dem Fall wiederum passt die vorsintflutliche Art der statistischen Datenerstellung und ihrer Auswertung nicht ins Bild. Hier entflammen lärmende Fragezeichen einen Brandwall gegen die obige Darstellung. Man muss sich schon sehr wundern.

 

 

 

Wunder der Statistik

Zahlen lügen nicht

 

 

Ø      Durchschnittlich betäubt jeder Kindergarten sieben Kinder in der Woche.

 

Ø      Insolvenzverwaltern gelingt es in 72 % der Fälle, die angeschlagenen Betriebe mit einem Schikanierplan zu retten.

 

Ø      Der Rentierverschleiß in Deutschland ist in diesem Jahr um 5% gestiegen. Hauptursache sei die wilde Bemutterung gewesen, meldet die AG Rentier in Not.

 

Ø      In Freiburg wurde in einem dreimonatigen Bauzelt ein Klangkraftwerk von mehr als 10 000 Dezibel errichtet. Der erzeugte Ton wird umgerechnet 1000 Heimstereo-Anlagen ersetzen.

 

Ø       Im vergangenen Jahr sank der Pantoffelkonsum der Westdeutschen von 64 Kilo pro Person auf 56 Kilo. Vor allem durchgelaufene Pantoffeln wurden weniger verzehrt.

 

Ø      Die Volksbank Oberlaken legte eine vorläufige Madenbilanz vor. Im ungebremsten Wachstum der Geschäftsmaden spiegelt sich das Vertrauen der ländlichen Kunden wider, freute sich der Vorstand.

 

Ø      Mehr als 10 000 Kinder haben im Dezember die Klärschiffe auf den Hamburger Abwasserkanälen benutzt. "Wir wollen mit der Einrichtung die schöne Weihnachtstradition erhalten", sagte eine Sprecherin der Hansestadt.

 

Ø      Forscher haben einen Impfstoff entwickelt, der gegen 90 % aller Bizepsarten helfen kann. In Versuchen mit Mäusen ließ der Wirkstoff Muskelgewebe um mehr als 80 % schrumpfen.

 

Ø      1968 war seit langem das teuerste Zankjahr in Deutschland. Auch eine leichte Entspannung in der Zankbilanz im Dezember konnte daran nichts mehr ändern. Im bundesweiten Durchschnitt mussten die Verbraucher für ein Kilo Zank 15,22 DM auf den Tisch legen. Dazu auch folgende Statistik:

 

Ø      Die Zahl der Abgewiegelten hat zum Jahresende einen historischen Rückstand erreicht. Begleitend dazu signalisiert der Streitmarktindex einen Wutrekord.

 

Ø      In Berlin kommen im nächsten Jahr zusätzliche 8000 Bordellbetten auf den Markt.

 

Ø      Leberkoliken werfen immer weniger Rendite ab (nur noch 3,87 %).

 

Ø      Umfang und Gewicht der Badehosen steigen in jedem Mai um rund 27 % an.

 

Ø      2000 Laubgegner und 1439 Kleingärtner haben sich für die Herbstlaubdemo in Hamburg angemeldet.

 

Ø      Nur noch 5 Halbwaisenklone benötigen Wissenschaftler am Max Planck Institut, um einen Vollwaisen zu generieren.

 

Ø      Das durchschnittliche Alter beträgt 51,3 Jahre.

 

Ø      Um 88 % ist der Feudelverschleiß im letzten Halbjahr gestiegen. Vor allem die Scheuerzunahme im August hat den Substanzschwund beschleunigt.

 

Ø      198 200 000 Wandernieren wurden dieses Jahr an Deutschlands Flughäfen gezählt.

 

Ø      Der Bierdunst bleibt stabil. Auf 68 % Feuchte hat sich der Dunst in deutschen Kneipen eingepegelt. Dabei ist der Alkoholanteil des Mischdunstes wieder um 5 % pro m³ gesunken.

 

Ø      Bis zum Jahr 2025 soll das Gesamtgewicht der Seekühe von derzeit 226 Mio. Tonnen auf 600 Mio. Tonnen klettern.

 

Ø      Der Zahnbelag in den Teebeuteln variiert je nach Aufbrühzeit, übersteigt aber nie die Schmelztemperatur im Quadrat.

 

 Ø      Pro Kopf haben die Deutschen in diesem Jahr mehr als 23 kg Käse gebügelt.

Ø      Niedersachsens Bauern pellten durchschnittlich 66 Melkstühle aus ihren Kartoffelmieten.

 


 

  Dr. Brandstetter
 










 

Ausgeschlossen

 

Der Schlüsselnotdienst musste kommen. Die Frau hatte den Haustürschlüssel von innen stecken lassen und die Tür hinter sich zugezogen. Nun standen beide fröstelnd in der Einfahrt und warteten. Sie verwahrte sich gegen jeden Vorwurf. Dr. Brandstetter sagte, er habe doch gar nichts gesagt. "Aber gedacht", sagte die Frau, "man sieht es an deinen herabgezogenen Mundwinkeln. So bist du."

"Ich hatte etwas unter der Zunge", sagte Dr. Brandstetter und schämte sich im gleichen Augenblick für den durchsichtigen Einwand. "Pah", sagte die Frau, "wenn du wenigstens etwas unternehmen würdest."

Dass er mit seinem Handy den Schlüsselnotdienst bestellt hatte, schien sie nicht für eine angemessene Vorgehensweise zu halten. "Ich kann ja versuchen, die Terrassentür aufzuhebeln", überlegte er laut, auch um der Frau zu beweisen, dass er sehr wohl etwas unternahm beziehungsweise eine zielführende Maßnahme in seine Überlegungen einbezog. "Allerdings", wandte er ein, "könnte die Terrassentür einen Schaden erleiden, wenn ich mit dem hilfsweise und zweckentfremdet eingesetzten Spaten eine Versuchsanordnung beschreite, die, wie mir scheint, keinen die Verhältnismäßigkeit berücksichtigenden  Erfolg verspricht, ein Schaden, der vermieden werden könnte, wenn wir geduldig auf den Schlüsselnotdienst warten und uns in dieser Angelegenheit dem Fachverstand des Schlüsselwerkers und seiner sicherlich professionellen Werkzeuge anvertrauen."

Die Frau schritt unwirsch zum Haus und rüttelte an dem Schlafzimmerfenster. Es öffnete sich, orientalisch klingende Flötentöne schallten heraus. Die beiden kletterten durch das Fenster ins Haus. Es war dunkel. Dr. Brandstetter fand sich nicht zurecht. Er konnte sich nicht erinnern, hier schon einmal gewesen zu sein. Wie heiß es war. Die Frau war sofort links in die tiefe Schwärze eingestiegen, verhaltenes Stimmengemurmel von dort, untermalt vom Rauschen eines Wasserfalls. Vorsichtig tastete Dr. Brandstetter sich an der Wand entlang, bis er auf eine Tür stieß. Sie gab nicht nach, und eine Klinke fehlte. Hinter der Tür regte sich etwas. Jemand klopfte an das Holz, ein Schlüsselbund klirrte. Vermutlich ist es der Mann vom Schlüsselnotdienst, dachte Dr. Brandstetter, er war wohl eingedrungen und suchte nach den Einwohnern. Die Person hinter der Tür stieß einen Fluch aus und begann dann in einer hohen Tonlage zu wimmern, ein Singsang in einer rauen fremden Sprache. Fast wie ein Eunuch, dachte Dr. Brandstetter. Das Wimmern ebbte ab und erstarb schließlich ganz . Dr. Brandstetter vernahm Schritte, das Gartentor quietschte.

Dann war Stille.

 

 

 

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